Fachwissen

Ursachen, Häufigkeiten, Ausprägungen:

Psychosomatische Erkrankungen in der Adoleszenz

Mechthild Neises

aus korasion Nr. 2, Juni 2002

Die Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein umfasst Entwicklungen auf mehreren Ebenen. Der Begriff "Adoleszenz" bezieht sich auf die psychischen und sozialen Prozesse, wohingegen der Begriff "Pubertät" auf die biologischen Veränderungen zielt. Betrachtet man die Entwicklungsphasen nach Erikson (1995), so folgen Pubertät und Adoleszenz der Phase der Latenz und gehen dem frühen Erwachsenenalter voraus.

Zwischen "Identität" und "Rollenkonfusion"

Der zentrale Konflikt in der Adoleszenz spielt sich zwischen den Polen "Identität" und "Rollenkonfusion" ab. Kommt dieser Beziehungs-Verhaltensmodus zu einer gelungenen Lösung, wird als Grundtugend, wie Erikson es nennt, die Treue entwickelt.

In der Adoleszenz intensiviert und verschärft sich aufgrund der pubertären Entwicklung und der damit verbundenen hormonellen Stimulation die Triebtätigkeit. Dies führt in der Regel zu Verwirrung und Verunsicherung und wird nicht selten krisenhaft durchlebt.

Die Pubertät ist eine Periode hormonell gesteuerter Veränderungen mit Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale und mit Erreichen der Fertilität. In diese Phase fällt der Pubertätswachstumsschub, und das in der subjektiven Wahrnehmung herausragende Ereignis ist zumeist das Einsetzen der ersten Menstruation, die Menarche.

Es ist leicht einsehbar, dass diese biologisch fundierten körperlichen Veränderungen direkte Auswirkungen auf das psychische Erleben haben und im Kontext mit den sie begleitenden soziokulturellen Prozessen gesehen werden müssen (Blos, 1992). Insbesondere das Mädchen steht in dieser Lebensphase vor der Aufgabe, die Identifikationsmuster mit der Mutter einerseits aufrechtzuerhalten und sich andererseits von ihr abzulösen.

Das Pendeln zwischen aggressiver Ablehnung der Mutter und enger Bindung kann die Basis für Störungen des Körperschemas werden. Es kann dazu führen, dass Adoleszente beginnen, ihren Körper abzulehnen, und Körperveränderungen mit Affekten wie Scham und Schuld verknüpft werden. Zu diesen Körperveränderungen kann zum Beispiel eine schmerzhaft erlebte Menstruation gehören. Besonders am Erleben der Menstruation zeigt sich, wie das Erleben körperlicher Veränderungen in die psychische Entwicklung gelingend oder misslingend eingebaut wird.

Der Beginn der Menstruationen kennzeichnet am deutlichsten den Übergang vom Mädchen zur Frau und ist nicht selten mit heftigen ambivalenten Gefühlen verknüpft. Den eigenen Körper zu kennen und auch mit der Lust selbstständig umgehen zu können, ist wesentliche Voraussetzung für eine stabile weibliche Identität und damit auch für die Gleichheit in zukünftigen Beziehungen. Dieser progressive Aspekt der Menstruation wird weitgehend tabuisiert: Eine unzureichende emotionale Vorbereitung auf die Menstruation ist signifikant häufig mit negativen Gefühlen bei der Menarche assoziiert. Allerdings lässt eine positive oder negative Erinnerung an die Menarche keine Voraussage über Menstruationsbeschwerden im Erwachsenenalter zu.

Es lassen sich einige Faktoren auflisten, die für eine positive Verarbeitung der Menarche von Bedeutung sind (Bergler, 1984). Dazu gehören:

  • Ein hohes Maß an elterlicher Zuwendung,
  • Eine positive Einstellung zur Körperlichkeit im Elternhaus,
  • Eine positive Reaktion auf die Menarche seitens der Eltern und anderer Familienangehörigen,
  • Eine frühzeitige und intensive Aufklärung,
  • Eine aktive Gesundheitserziehung,
  • Eine persönlich positive Einstellung zum Erwachsenwerden,
  • Ein hoher persönlicher Stellenwert der Menarche,
  • Der Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen.

Die Reaktion auf die Menarche ist in starkem Maße vom Einfluss der Mutter abhängig, d.h. von der Vermittlung dessen, was die Menarche bedeutet, von der Aufklärung und Information seitens der Mutter und insbesondere von deren vorgelebter Weiblichkeit (Neises, Tilch-Bauschke, 2001). Die Untersuchung von Strauß und Appelt (1991) hat die Bedeutung bestätigt, die der Mutter zukommt: Die Untersucherinnen fanden eine hohe Konkordanz zwischen Müttern und Töchtern, insbesondere für Verhaltensweisen und -reglementierungen im Zusammenhang mit der Menstruation.

Neben den bereits genannten Faktoren spielen die folgenden Determinanten eine wichtige Rolle für die Entwicklung einer positiven Einstellung zur Menstruation, wobei diese Entwicklung nicht eindimensional ist:

  • Soziografische und soziokulturelle Determinanten; dazu gehören Menstruationsmythen und -tabus, Verhaltensreglementierungen und stereotype Vorstellungen;
  • Individuelle Determinanten wie gelernte Erfahrungen und Einstellungen;
  • Körperliche Faktoren wie zum Beispiel die Regelmäßigkeit des Zyklus;
  • Psychosoziale Faktoren wie Attributionsstile, Gesundheitsbewusstsein, allgemeine Klagsamkeit.

Geschlechtsspezifische Aspekte

Betrachtet man die Geschlechterdifferenz in der Manifestation psychischer Krankheitsbilder, zeigt sich, dass Frauen die Mehrheit psychosomatischer/psychiatrischer Patientinnen ausmachen. Die Literatur weist für Frauen ein doppelt so hohes Risiko auf, an Depressionen zu erkranken, eine höhere Morbidität infolge Neurosen, insbesondere infolge Angsterkrankungen, Panikstörungen und Phobien sowie Essstörungen und Somatisierungsstörungen. Bei Männern sind es hingegen häufiger Persönlichkeitsstörungen, antisoziale Störungen und Alkoholismus. Bei Frauen überwiegen Suizidversuche, bei Männern Suizide: Das suizidale Verhalten ist bei Mädchen bereits ab dem achten bis neunten Lebensjahr zwei- bis dreimal höher als bei Jungen. Vollendete Suizide sind bei Männern dagegen acht- bis zehnmal so häufig. Ätiologisch werden belastende Lebensereignisse, familiäre sowie sozio-ökonomische, hormonelle und neurophysiologische Faktoren sowie eine genetische Prädisposition diskutiert (Gutierrez-Lobos, Schmid-SiegeI, 1996).

Diese geschlechtsbezogene Epidemiologie ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass an Männer und Frauen unterschiedliche Erwartungen sowohl hinsichtlich Verhalten als auch hinsichtlich Ausdrucksweise gestellt werden. Die Geschlechterrollen beeinflussen die Manifestation psychischer Störungen, ihren Ausdruck und die Reaktionen anderer auf die Patientinnen und Patienten.

Die Beschäftigung mit der Frage, was Frauengesundheit - abgesehen von ihrer Beziehung zu den reproduktiven Funktionen - noch bedeuten und beinhalten kann, ist bisher sowohl medizinisch als auch politisch vernachlässigt worden (Gutierrez-Lobos, Schmid-SiegeI, 1996).

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei psychischen Störungen manifestieren sich schon zu einem frühen Lebenszeitpunkt. So beträgt die Prävalenz schwerer Depressionen ab dem 15. Lebensjahr bei Mädchen und Frauen 20,6 %, dagegen bei Jungen und Männern 10,5 %. Der Beginn dieser unterschiedlichen Entwicklung zeigt sich ab dem 10. bis 11. Lebensjahr und wird ab dem 12. bis 14. Lebensjahr bzw. ab dem 15. bis 19. Lebensjahr deutlich; dazu liegen verschiedene Studienergebnisse vor.

Dieser signifikante Anstieg von depressiven Erkrankungen (nach DSM-IV-Kriterien) findet zwischen den Pubertätsstadien II und III nach Tanner statt. In 75 % zeigt sich eine Komorbidität von ein bis zwei Erkrankungen, und als der Depression vorausgehende Erkrankung zeigt sich in 60 % eine Angststörung (Steiner, 2001). Steiner pointiert die Bedeutung psychischer Erkrankungen bei Kindern und Adoleszenten mit dem Schlagwort "the forgotten milestone". Das heißt: Häufig glauben wir immer noch, Jugendliche und Kinder seien für psychische Störungen nicht anfällig.

Für das Durchlaufen der Pubertät ist das so genannte Timing wichtig, d.h. die Beurteilung der Pubertätsentwicklung in Relation zur Peergroup. Sowohl eine frühe als auch eine späte Maturität führt zu einem höheren Risiko für psy-chische Störungen, für Delinquenz, für Alkohol-/Drogenabusus und für häufigere Schlafstörungen.

Gesundheitszustand von Jugendlichen

Bisher haben zahlreiche Untersuchungen die Geschlechtsunterschiede im Erwachsenenalter belegt. Danach leben Frauen zwar deutlich länger, gleichzeitig schätzen sie ihren Gesundheitszustand aber schlechter ein und nutzen häufiger medizinische Versorgungseinrichtungen.

Bisher haben sich wenige Untersucher mit der Altersgruppe der Adoleszenten befasst, auch weil sich der seit der Romantik tradierte Mythos von der sorglosen Kindheit und Jugend fortsetzt. Erst in den letzten Jahren kommen zunehmend belastende Lebensereignisse in den Blick, die bereits in dieser Lebensphase die Gesundheit beeinflussen und gefährden können: Es findet sich heute bei den Jugendlichen eine steigende Rate an Schwangerschaften. Jugendliche rauchen früher; etwa ein Drittel der 15-jährigen Mädchen und ein Viertel der gleichaltrigen Jungen raucht. Der Abusus von Alkohol und Drogen ist ein gravierendes Problem dieser Lebensphase - neben anderen gesundheitlichen Pro-blemen (Klapp, 2001).

Als Ursachen für diese Entwicklung werden zunehmend psychosoziale Stressoren ausgemacht. Dazu gehören Schulwechsel, verbunden mit Erfahrungen des Einfügens in die Peer-Interaktion, die Erfahrung körperlicher Gewalt und des sexuellen Missbrauchs sowie weitere stressvolle Lebensereignisse. Auf der anderen Seite ist ein wichtiges Gegengewicht die Erfahrung von Unterstützung durch die Familie.

Ferner sind genetische Faktoren zu beachten: Ist ein Elternteil an psychischen Störungen erkrankt, bedeutet dies ab dem 20. Lebensjahr ein etwa 40 %iges eigenes Erkrankungsrisiko, wobei die Weitergabe der genetischen Disposition von der Mutter auf die Tochter stärker wirksam ist als vom Vater auf die Tochter.

Betrachtet man die Einschätzung des Gesundheitszustandes, so beurteilen etwa zwei Drittel aller Mädchen ihren Gesundheitszustand als "sehr gut" und "gut". Eine vergleichbare Einschätzung haben allerdings drei Viertel der Jungen. Umgekehrt schätzt sich nur ein Viertel aller Jungen hinsichtlich des Gesundheitszustandes als "schlecht bis sehr schlecht" ein, allerdings etwas mehr als ein Drittel aller Mädchen. Betrachtet man die subjektive Definition, so lautet diese bei Jungen: "Gesund bin ich, wenn ich das tun kann, was ich immer tue"; die Betonung liegt auf der Funktionsfähigkeit. Bei Mädchen lautet die subjektive Definition: "Gesund bin ich, wenn ich mich wohl fühle"; die Betonung liegt auf der subjektiven Befindlichkeit (Kolip, 1994).

Petra Kolip führte eine Befragung an 2 330 Jugendlichen im Alter von 12 bis 16 Jahren durch. Diese bemerkenswerte Erfassung psychosomatischer Beschwerden zeigt einen hochsignifikanten Unterschied zwischen Mädchen und Jungen für vegetative Syndrome wie Nervosität, Unruhe und Schlafstörungen, daneben für psychologische Syndrome wie Übelkeit, Kopfschmerz, Schwindelgefühl sowie spezifische Schmerzen wie Unterbauch- und Rücken-/Kreuzschmerzen (Tab. 1 und 2).

Die höhere Prävalenz psychosomatischer Beschwerden bei Mädchen (Abb. 1) drückt einerseits die größere Fähigkeit von Mädchen aus, körperliche Empfindungen wahrzunehmen, zu bewerten und verbal zu äußern. Andererseits kann man mutmaßen, dass die Aneignung der weiblichen Geschlechtsrolle vermittelt ist über eine nach innen gerichtete Form der Reaktion auf Umweltanforderungen mit Erlernen eines Bewältigungsverhaltens, das im ungünstigsten Fall zur Ausbildung psychischer und psychosomatischer Störungen führt.

An psychosomatischen Störungen im Kindes- und Jugendalter sind insbesondere zu nennen:

1. Konversionsstörungen: Dazu gehören funktionelle Störungen ohne anato-misch-pathologisches Substrat, die sich in motorischen, sensorischen, somato-viszeralen und/oder anderen Funktionsbereichen zeigen können. Sie sind als Ausdruck eines psychischen Konfliktes oder Bedürfnisses zu verstehen.

2. Essstörungen: Dazu gehören die Anorexia nervosa mit einer Häufigkeit von 1 %, die Bulimia nervosa mit einer Häufigkeit von 1 bis 5 %, die Adipositas mit 5 % und seltener die Pica. Hervorzuheben ist bei der Anorexia nervosa eine Mortalitätsrate von 5 bis 15 %.

3. Weitere psychosomatische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Asthma bronchiale, Hauterkrankungen (Neurodermitis), Enuresis, Enkopresis und Tic-Störungen (Bürgin, 1993).

Essstörungen

Betrachtet man die Prävalenz von Essstörungen, so zeigt sich bei Jugendlichen ein besonders hoher Anteil (Anorexia nervosa: 1 %, Bulimia nervosa: 5 %, Adipositas: 5 %) (Klapp, 2001). In einer Befragung von Studentinnen (n = 394) lag der Anteil der Anorexia nervosa bei 0,25 % und der der Bulimia nervosa bei 0,76 % (oiels, Garthe, 2000). In einer Frauenarztpraxis ergab sich bei einer Befragung von 486 Frauen - die jüngste Patientin war 14 Jahre alt, das mittlere Alter betrug 34,2 Jahre (Backe, 2001) - die Diagnose "Anorexia nervosa" in 1,02 % und die Diagnose "Bulimia nervosa" in 1,85 %.

Trotz mancher Überschneidungen sind die Magersucht und die Bulimie jeweils eigenständige Krankheitsbilder, die Unterschiede hinsichtlich der Symptomatik und des psychischen Befundes zeigen (Tab. 3 und Tab. 4).

Schlussbetrachtungen

Die Gratwanderung zwischen männlichen und weiblichen Mustern, die in Pubertät und Adoleszenz neu erlernt und verfestigt werden, führt nicht bei allen Frauen zu krisenhaftem Erleben und massiven Symptomen, sondern die meisten Frauen finden Lösungen zwischen den eigenen Wünschen, den gesellschaftlichen Ansprüchen und den innerpsychischen Konflikten, d.h. Lösungen, die sie handlungsfähiger lassen. Dennoch wird bei Frauen auch heute noch Bindung häufig gleichgesetzt mit Übereinstimmung, Harmonie und Verständnis, womit der Zugang zu Auseinandersetzung, Streit oder gar Streitlust verschlossen bleibt. Wenn aber der Wunsch nach Durchsetzung, Macht und Lust per se als schlecht erlebt wird, kann er nicht in seiner konkreten Gestalt verarbeitet werden.

In unserer Arbeit mit Jugendlichen ist es wichtig, einen dritten Weg zu eröffnen, der Bindung nicht mit Undifferenziertheit und Autonomie nicht mit Bindungslosigkeit verwechselt. Erst in der Auseinandersetzung, sei es in der Liebe, sei es in der Gegnerschaft oder im selbstbewussten Gestalten, entsteht die Resonanz, die notwendig ist, um die eigene Person als begrenzt und dennoch einflussreich zu erfahren. Um mit Rohde-Dachser zu sprechen, kann es wichtig sein, unsere Patientinnen eingehender als bisher zur Äußerung ihrer Aggression zu ermutigen und auch für eine zornige Patientin manchmal ein wenig Stolz zu empfinden.

Auch heute noch ist die Aufgabe, die Frauen in unserer Gesellschaft haben, eine zweigeteilte. Dabei geht es sowohl um eine Teilhabe am traditionell weiblich-privaten Bereich als auch um eine Teilhabe am öffentlich-gesellschaftlichen Bereich. Dies mag das Zitat von Gilli-gan (1995) verdeutlichen:

"Der Wind der Tradition, der den Frauen entgegenbläst, ist ein kalter Wind, weil er die Botschaft vom Ausschluss bringt - bleib draußen, weil er die Botschaft von der Unterordnung bringt - bleib unten, weil er die Botschaft von der Objektwerdung bringt - werde Objekt der Anbetung und des Begehrens anderer, sieh dich selbst so, wie du jahrhundertelang durch einen männlichen Blick gesehen wurdest."

Ermutigen mag die Lektüre von Eva Ensler, Autorin der "Vagina Monologe", einen eigenen Weg zu finden. Sie hat über 200 Frauen aus unterschiedlichen Altersgruppen und Berufen, Beziehungen und Kulturkreisen zu ihren Phantasien und Erfahrungen im Umgang mit ihrer Vagina befragt. Daraus das Gespräch mit einem siebenjährigen Mädchen: Wenn deine Vagina sich anziehen würde, was würde sie tragen? "Ein rotes T-Shirt." Und wenn deine Vagina sprechen könnte, was würde sie sagen in drei Worten? "Dass sie ziemlich intelligent ist."

(Literatur bei der Verfasserin.)

Verfasserin:

Prof. Dr. Dr. med. Mechthild NeisesMedizinische Hochschule Hannover Psychosomatische Frauenheilkunde Pasteurallee 5 30655 Hannover Tel.: 0511/906-3560 Fax: 0511/906-3562 E-Mail: Neises.MHH@gmx.de