Fachwissen

Jugendsexualität

Prävention von ungewollten Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Erkrankungen durch Sexualerziehung

Dan Apter

aus korasion Nr. 1, März 2004

Sexualerziehung hat es in verschiedenen Formen schon immer gegeben. Realität ist andererseits aber auch, dass sich die Menschen nicht anders als die Tiere vermehren. Als Fachleute haben insbesondere die Gynäkologen die Aufgabe, geeignete Formen der Sexualerziehung für Jugendliche zu entwickeln und ein Konzept mit der Zielsetzung zu erarbeiten, die Gesundheit der Fortpflanzungsorgane bei den Heranwachsenden zu sichern.

Voraussetzungen für „safer sex“

Viele Jugendliche sind heute bereits in sehr jungen Jahren sexuell aktiv. Ihre reproduktive Gesundheit beruht daher auf drei Voraussetzungen:

  1. Wir müssen eine adäquate Einstellung zu den sexuellen Bedürfnissen der Jugendlichen finden.
  2. Es bedarf der Sexualerziehung und -beratung.
  3. Die entsprechenden Gesundheitsdienste müssen die nötige Vertraulichkeit gewährleisten und von hoher Qualität sein.

Akzeptanz der Jugendsexualität, Sexualerziehung und ein spezielles Angebot an Dienstleistungen wirken bei den Bemühungen um eine bessere reproduktive Gesundheit der jungen Menschen zusammen. Wenngleich vergleichbare Bemühungen in den meisten europäischen Ländern seit vielen Jahren zu beobachten sind, sei dies am Beispiel Finnland dargelegt:
Vor 56 Jahren war Finnland ein sehr armes Land. Damals waren Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich verboten, und es war nicht selten, dass Frauen nach illegalen Eingriffen verstarben. Die Zahl an sexuell übertragenen Erkrankungen war hoch, und eine öffentlich unterstützte Sexualerziehung existierte nicht. Wir mussten daher nachhaltig aktiv werden: Zwar können nicht alle Probleme hinsichtlich der Jugendsexualität präventiv gelöst werden, bei entsprechendem politischen Willen und Setzen der richtigen Prioritäten kann jedoch viel erreicht werden:
Im Laufe der 60er Jahre kam es zu soziokulturellen Veränderungen, die speziell die Teenager und deren Sexualverhalten betrafen. Die Zahl an Teenagergeburten stieg während dieser Jahre in vielen europäischen Ländern an. Nach Novellierung der einschlägigen Gesetze in den 70er Jahren erhöhte sich die Zahl an Schwangerschaftsabbrüchen.

In den Vereinigten Staaten wurde voreheliche Jugendsexualität hauptsächlich unter moralischen Gesichtspunkten betrachtet. In den skandinavischen Ländern und in vielen anderen Teilen Europas hingegen stand die Besorgnis hinsichtlich der gesundheitlichen Konsequenzen im Vordergrund der Betrachtung. Die resultierenden Aktivitäten zielten darauf ab, die Voraussetzungen für “safer sex” zu schaffen, die Sexualerziehung zu intensivieren, Kontrazeptiva leicht verfügbar zu machen und den Zugang zu Dienstleistungen im Bereich der reproduktiven Gesundheit zu verbessern.

In Finnland haben wir in diesen Jahren Strategien mit dem Ziel der Verhütung ungewollter Schwangerschaften und sexuell übertragbarer Erkrankungen erarbeitet. Darüber hinaus hatten wir eine Einstellung zu den Jugendlichen zu gewinnen, bei der Sexualität nicht nur als Tatsache, sondern auch als eine positive Ressource für die Jugendlichen bewertet wird.

Die kulturellen Veränderungen haben ihren Niederschlag in der Gesetzgebung sowie auch in der Entwicklung von Gesundheitsdiensten und der Umsetzung von Erziehungsmaßnahmen gefunden. In Finnland wurden – ähnlich wie in vielen anderen europäischen Ländern – Beratungszentren eingerichtet. Auch wurde ein spezieller Gesundheitsdienst in den Schulen etabliert.

Neun Schritte der Sexualentwicklung

Tab. 1: Die neun Schritte der Entwicklung bis hin zur verantwortungsbewussten Sexualität (D. Apter, 2000)
1. Für Kinder im Vorschulalter sind Mutter und Vater die Rollenmodelle.
2. Bei den 6- bis 7-Jährigen werden Idole zum Gegenstand schwärmerischer Verehrung.
3. 7- bis 8-Jährige entdecken ihren eigenen Wert und ihre eigenen Würde. Sie bestehen auf dem Recht, Dinge für sich zu behalten und sie auch nicht mit Familienmitgliedern zu teilen.
4. Die 9- bis 10-Jährigen geraten in die Turbulenzen der Pubertät; ihr Wissensdurst führt zur Fokussierung sexueller Sachverhalte.
5. Mit 11 kommen die ersten sexuellen Gefühle auf, ein erstes Sich-Mögen stellt sich ein.
6. Die 12-Jährigen sind schon recht selbständig, sie brennen darauf, erwachsen zu werden.
7. Bei den 13-Jährigen verknüpfen sich Verstand, Gefühle und Biologie.
8. Bei den 14-Jährigen vertieft sich diese Entwicklung; sie legt den Grund für einen verständigen Umgang mit den neuen Kräften und Fähigkeiten.
9. 15-Jährige sollten unabhängig und verantwortungsbewusst sowie in der Lage sein, eine bereichernde sexuelle Beziehung zu entwickeln.

Für den einzelnen Jugendlichen bringt die Pubertät Träume von einer neuen Art der Beziehung zu sich selbst und von intimer Nähe zu anderen Personen. Aber die reifende junge Persönlichkeit ist in vieler Hinsicht noch sehr unsicher und allein und deshalb verletzlich. Sie oder er brauchen daher unsere Unterstützung: Es hilft den jungen Leuten, ihre Entscheidungen zu treffen, wenn wir ihre Selbstachtung stärken und sie in sexuellen Fragen ausreichend unterrichten – und außerdem ihre reproduktive Gesundheit schützen. Eine gute Jugendzeit hat einen eigenen Wert, außerdem legt sie den Grund für das Wohlergehen der Erwachsenen und ihrer künftigen Familien.

Wir haben einen Plan für die Sexualerziehung entwickelt, der sich am Alter bzw. Entwicklungsstand der Kinder orientiert. Dieser Plan basiert auf den – wie wir sie nennen – „neun Schritten der Sexualentwicklung“ (Tab. 1). Diese Entwicklung findet auf drei Ebenen statt: Gefühl, Verstand und Biologie. Alle drei Ebenen müssen einbezogen werden, denn Sexualerziehung erschöpft sich keineswegs in der Information über Empfängnisverhütung oder in Anleitungen zum Gebrauch eines Kondoms: Man muss auf der Ebene der Emotionen anfangen. Ein junger Mensch, der sich nicht wohl in seiner Haut fühlt, vielleicht unter einer Depression leidet, wird wahrscheinlich nicht auf sich selbst aufpassen. Er oder sie müssen mit sich im Reinen sein und den Willen haben, sich selbst zu schützen. Das ist die Voraussetzung für eine effektive Sexualerziehung. Der Verstand muss die anderen Ebenen kontrollieren.

Berücksichtigung individueller Bedürfnisse

Sexualerziehung kann auf unterschiedliche Art und Weise durchgeführt werden. In der Beratung geht es um den persönlichen Bereich. Diese Beratung spielt sich in einer direkten, interpersonalen Beziehung ab; sie gründet sich auf die Anerkennung der Individualität und kann sich deshalb auch auf sehr sensible Themen erstrecken. Eine solche Beratung kann z.B. im Rahmen des Schulgesundheitsdienstes oder in Kliniken für Jugendliche und Familienplanung stattfinden – und warum nicht auch in der gynäkologischen Sprechstunde? Ebenso gut kann eine nahe stehende Person Rat erteilen, jemand, zu dem der oder die Jugendliche Vertrauen hat, eine Lehrkraft, der Vater oder die Mutter eines Freundes, Verwandte usw.

Ein anderer Ansatz ist die typische Verfahrensweise in Schulen: Junge Menschen etwa gleichen Alters in einer Schulklasse hören einen Vortrag, werden anhand von Informationsmaterial unterrichtet und sprechen darüber. Diese Aufgabe kann von einer Lehrkraft oder einer Schulschwester oder auch von schulfremden Persönlichkeiten übernommen werden. Dieser Ansatz bietet somit die Möglichkeit, Informationen in einer interaktiven Art und Weise zu vermitteln. Allerdings können bei diesem Ansatz individuelle Bedürfnisse nicht genügend berücksichtigt werden. Deshalb wird ein Teil der Gruppe nicht wesentlich von solchen Veranstaltungen profitieren, entweder weil die Themen noch nicht wirklich interessieren oder weil einige Mitglieder der Gruppe bereits über die diskutierten Themen hinaus sind.

Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, generelle Kampagnen z.B. über die Massenmedien durchzuführen, um über die reproduktive Gesundheit zu informieren. Solche Aktivitäten bleiben zwar ziemlich oberflächlich, sie können aber das Problembewusstsein – z.B. bezüglich der HIV-Infektionsrisiken – verstärken.

Kulturelle Strategien unterschiedlich

Jugendsexualität stellt sich in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedlich dar. In Finnland liegt das Menarchealter bei 13 Jahren. Die Mädchen erleben den ersten Geschlechtsverkehr im Mittel mit 17 Jahren. Sie heiraten aber erst, wenn sie etwa 25 oder 26 Jahre alt sind, und sie bekommen ihr erstes Kind mit 28 Jahren. Es vergeht also ein Zeitraum von elf Jahren zwischen dem ersten Geschlechtsverkehr und der ersten Entbindung. In manchen asiatischen Ländern geschehen alle diese Ereignisse mehr oder weniger gleichzeitig: Pubertät, Eheschließung, sexuelle Aktivität und Mutterschaft werden in sehr jungen Jahren erlebt.

Folgerichtig sind die kulturellen Strategien im Hinblick auf die Jugendsexualität in den verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedlich. Zum Beispiel wird mancherorts die Lösung in einer frühen Eheschließung gesehen. Im Rahmen der traditionellen britischen Erziehung werden die Geschlechter getrennt. In manchen Ländern herrscht Repression, in anderen – hoffentlich – Akzeptanz der Fakten und der Versuch, einen adäquaten Umgang mit diesen Fakten zu entwickeln.

Es gibt viele verschiedene Informationswege: Fernsehen, Filme, Bücher, Gespräche mit Freunden usw. Wir müssen uns klarmachen, dass alle diese Möglichkeiten ihre speziellen Vorteile haben, dass aber Inhalte und Qualität der Informationen sehr verschieden sind. Es gibt z.B. eine sehr gut angelegte Studie aus Südafrika, in der u.a. ermittelt wurde, wo die Jugendlichen ihre Informationen suchen: Die meisten fragen ihre Freunde. Was die Kenntnisse über empfängnisverhütende Mittel betrifft, ist die Situation jedoch ganz anders. Man muss also in den verschiedenen Bereichen die richtigen Fragen stellen. In vielen Studien wurde nur danach gefragt, woher junge Leute ihre Informationen über Sexualität erhalten; die Antworten können irreführend sein.

Anhaltende Bemühungen erforderlich

In Finnland haben wir zur Vorlage bei der ersten internationalen Konferenz über Bevölkerungswachstum und -entwicklung im Jahre 1994 in Kairo eine kleine Broschüre mit dem Titel geschrieben: „Revolution der reproduktiven Gesundheit in Finnland, und wie wir das geschafft haben“. Heute müsste der Titel zum gleichen Thema eine völlig andere zweite Zeile erhalten: „… und wie wir alles verdorben haben“.

Ich möchte diese Aussage mit einigen Beispielen belegen: Die wirtschaftliche Depression in den 90er Jahren hatte zur Folge, dass sich die Situation hinsichtlich der reproduktiven Gesundheit Jugendlicher in unserem Lande verschlechterte. Es gab einige Veränderungen in der Organisation des Gesundheitswesens, die zur Schließung vieler spezialisierter Familienplanungszentren führten. Zudem wurde der Gesundheitsdienst in den Schulen eingeschränkt. Die Sexualerziehung war nicht länger obligatorisch, sondern wurde ab 1994 ein Wahlfach.

Abb. 1: Zahl der Schwangerschaftsabbrüche und Teenagergeburten (pro 1000) bei 15- bis 19-jährigen Mädchen in Finnland (1975-2001)

Seither gestaltet sich die Sexualerziehung in unseren Schulen außerordentlich unterschiedlich, und es gibt noch einige weitere Probleme. Die Folgen dieser Veränderungen gibt Abb. 1 wieder: Während der ca. 20 Jahre von der Mitte der 70er bis zur Mitte der 90er Jahre wurden Sexualerziehung und Gesundheitsdienst verbessert. In diesen Jahren hat sich die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei Jugendlichen und die Zahl der Teenagergeburten kontinuierlich verringert. In der Mitte der 90er Jahre erfolgte dann der sehr deutliche Einschnitt, da die unterstützenden Maßnahmen im Rahmen von Sexualerziehung und Gesundheitsdienst reduziert wurden. Gleichzeitig wurde die Sexualerziehung qualitativ schlechter. Wahrscheinlich haben aber auch noch einige andere gesellschaftliche Veränderungen im Hinblick auf die Familienstrukturen mitgewirkt, dass vor allem die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wieder zunahm. In den letzten Jahren ist zudem die Zahl der Teenagergeburten wieder angestiegen.

Genau derselbe Trend ist bezüglich der sexuell übertragbaren Infektionen zu verzeichnen (Abb. 2): Zum Beispiel ist bei den Chlamydien-Infektionen zunächst eine Abnahme und dann ab Mitte der 90er Jahre wieder eine Zunahme zu verzeichnen. Die Zahlen für junge Mädchen sind vergleichsweise hoch. Das liegt aber hauptsächlich daran, dass die Mädchen die verschiedenen Gesundheitsdienste eher in Anspruch nehmen als die Jungen und sich auf Chlamydien-Infektionen untersuchen lassen.

Abb. 2: Zahl der registrierten Chlamydien-Infektionen (pro 10 000) bei 15- bis 19-jährigen Mädchen und Jungen in Finnland (1988-2001)

Auch im internationalen Vergleich sind die Zahlen sehr unterschiedlich. Sie reflektieren die Maßnahmen, die im Hinblick auf Jugendliche in den verschiedenen Ländern getroffen werden: In den USA sind Teenagergeburten bekanntermaßen häufig und zahlenmäßig mit der Häufigkeit in Entwicklungsländern zu vergleichen. Die Zahlen für England liegen zwischen den Zahlen für die USA und Europa. In vielen europäischen Ländern weisen die Teenagergeburten hingegen eine deutliche Abnahme auf.

Zusammenfassung

Wenn die Jugendsexualität nicht verurteilt, sondern mit Angeboten zur Sexualerziehung und der Einrichtung spezieller medizinischer Dienste beantwortet wird, kann man die reproduktive Gesundheit der Jugendlichen deutlich verbessern. Dies ist mit vergleichsweise geringem Kostenaufwand möglich. Jedes Jahr reifen neue Gruppen von Jugendlichen heran. Es sind daher anhaltende Bemühungen erforderlich. Erziehung, Beratung und Gesundheitsdienste werden gebraucht. Wenn die finanziellen Mittel dafür zu gering angesetzt oder nicht bereitgestellt werden, sind negative Folgen sehr bald festzustellen.

Verfasser:

Prof. Dr. med. Dan Apter
The Sexual Health Clinic
Family Federation of Finland
P.O. Box 849
00101 Helsinki
Finland
E-Mail: dan.apter@noSpam.vaestoliitto.fi

Übersetzung:
Dr. med. Judith Esser Mittag, Düsseldorf