Fachwissen

Betreuungsauftrag Ullrich-Turner-Syndrom (UTS)

Die Turner-Patientin in der gynäkologischen Praxis

Ein Beitrag von Dr. med. Ingeborg Voß-Heine, Werl

aus korasion Nr. 3, August 2009

Das UTS ist eine häufige Chromosomenaberration, die aufgrund des Symptomenkomplexes organisch-medizinisch wie auch psychosozial einer interdisziplinären Zusammenarbeit bedarf. Es gibt keine ausgewiesenen Zentren für die Betreuung Betroffener. Neben wechselnder Ausprägung der Symptome ist allen Patientinnen eine Gonadendysgenesie, die eine Hormonsubstitution notwendig macht, gemeinsam. Dies gibt uns Gynäkologinnen und Gynäkologen den Auftrag, eine Leitfunktion in der lebenslangen Betreuung zu übernehmen.

Das Ullrich-Turner-Syndrom wird in der Regel durch das totale oder teilweise Fehlen eines der beiden X-Chromosomen in allen oder einigen Körperzellen verursacht oder durch den Verlust eines Stücks des X-Chromosoms oder einer Strukturanomalie desselben. Eine Fehlverteilung bei der Gametogenese oder während der ersten Zellteilung nach der Befruchtung führt zur reinen Monosomie 45,X (etwa 2/3 der Fälle). Hier fehlt in der Mehrzahl das väterliche X. Bei Monosomie sollten molekulargenetisch winzige Reste eines Y-Chromosoms ausgeschlossen werden; bei Nachweis muss die Gonadektomie wegen des Entartungsrisikos der Streak-Gonaden erfolgen.

Der Verlust eines X-Chromosoms während späterer Zellteilungen führt zu Mosaiken 46,XX/45,X. Die Muster in den einzelnen Organen können deshalb unterschiedlich sein. Es kann durch Teilverluste oder strukturelle Veränderungen zu unterschiedlicher Symptomausprägung kommen. Wiederholungsgefahr besteht, wenn ein Elternteil eine balancierte Translokation hat.

UTS-Häufigkeit und Symptomatik

Die Häufigkeit des UTS wird in der Literatur mit 1:2 000 bis 1:2 500 Mädchengeburten angegeben. Sieben bis zehn Prozent aller Spontanaborte weisen ein UTS auf, drei Prozent aller Embryonen sind betroff en, wobei circa ein Prozent der Föten überlebt (1). Ob die Häufigkeitsangaben bei der pränatalen Diagnostik heute noch so gelten, sollte geprüft werden, denn 90 bis 95 Prozent der Feten zeigen einen deutlichen Hydrops und dürften damit im Rahmen der Pränataldiagnostik auff allen und nicht selten bei Entdeckung zu einem Schwangerschaftsabbruch führen. Die UTS-Häufigkeit nimmt jedoch nicht mit steigendem Lebensalter der Mutter zu. Auf dem X-Chromosom liegen Erbinformationen für die Entwicklung der Ovarien, des Größenwachstums und anderer Körpermerkmale. Daher sind Leitsymptome Minderwuchs (95 %) und die Gonadendysgenesie mit vorzeitiger Follikelatresie (Abb. 1).

Abb. 1: Häufigkeit von krankhaften Veränderungen bei UTS

Veränderung, Häufigkeit

Augen, 20 - 39 %
Herabhängende Oberlider (Ptosis)
Lidspaltenschrägstellung, sog. Mongolenfalte (Epikanthus)
Kurzsichtigkeit (Myopie)
Schielen (Stabismus)

Ohren, 40 - 59 %
Verformung der Muscheln
Mittelohrentzündung
Schwerhörigkeit

Mund, Kiefer, 60 - 79 %
Hoher Gaumen (Palatum arcuatum)
Kleiner Unterkiefer (Mikrognathie)
Zahnfehlstellung

Haut, Hautanhangsgebilde, 60 - 79 %
Schwellungen der Hände und Füße (Lymphödem)
Vermehrte Hautflecken (Pigmentnävi)
Vermehrte Körperbehaarung (Hypertrichose)
Verformung der Finger- und Fußnägel (Nageldysplasie)
Vermehrung der Hautleisten (Dermatoglyphen)
Haarausfall (Alopezie)
Pigmentverlust (Vitiligo)

Hals, 60 - 79 %
Kurzer, breiter Hals
Tiefe Nacken-Haar-Grenze
Nach oben gerichteter Haaransatz im Nacken
Seitliche Hautfalten (Pterygium colli)

Brust, 60 - 79 %
Rechteckige Form (Schildthorax)
Weit erscheinender Abstand der Brustwarzen
Nach innen gerichtete (inverse) Brustwarzen

Skelett, 40 - 59 %
Großer Winkel zwischen Ober- und Unterarm (Cubitus valgus)
Kurze Mittelhandknochen (Brachymetakarpie)
Strähnige Knochenstruktur
Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose)

Herz, Gefäße, 40 - 59 %
Aortenisthmusstenose
Zweizipfelige (bikuspidale) Aortenklappe
Aortenerweiterung (Aortenaneurysma)

Nieren, 40 - 59 %
Nierenfehlbildung (z.B. Hufeisenniere)
Einseitiges Fehlen einer Niere (Aplasie)
Veränderungen des Nierenbeckens und der Harnleiter
Gefäßanomlien

Eierstöcke, 80 - 100 %
Fehlanlage (Gonadendysgenesie)

Wachstum, 80 - 100 %
Kleinwuchs bei Geburt
Kleinwuchs nach der Geburt

Die Augen sind in 20 bis 39 Prozent der Fälle betroffen, Myopie und Strabismus müssen rechtzeitig korrigiert, eine Lidptosis kann wenn nötig operativ korrigiert werden. Die Verformung der Ohrmuscheln macht die Ohren mit Behinderung des Hör- und Sprachvermögens zu einem eng zu überwachenden Organsystem (40–59 %). Besonders im Kleinkindalter (Maximum im 3. Lebensjahr) kommt es bei häufigen Mittelohrentzündungen früh zu einer Schalleitungsschwerhörigkeit mit Problemen in Tonunterscheidung und Tonerkennen, im Erwachsenenalter droht frühzeitig Hörverlust. Anatomische Veränderungen von Mund und Kiefer (60–79 %) können durch kieferorthopädische Maßnahmen behandelt werden. Bei den Veränderungen der Haut und Hautanhangsgebilde (60–79 %) sind häufi g Lymphödeme an Füßen und Händen auffällig. Veränderungen im Halsbereich (60–79 %) sind oft nicht so auffällig ausgeprägt, ein deutliches Pterygium colli ist zufriedenstellend operierbar. DieThorax- und Brustveränderungen sind eher kosmetischer Natur, es kommt auch unter Estrogentherapie in einigen Fällen nicht zur ausreichenden Brustgröße. Die Ursache dafür ist noch unklar.

Von den Skelettfehlbildungen (40–59 %) ist die Skoliose rechtzeitig zu behandeln. Problematischer sind Fehlbildungen und Strukturstörungen von Herz und Gefäßen (40–59 %). Neben operativ korrigierbaren Aortenisthmusstenosen und einer bicuspidalen Aortenklappe sind es besonders Aortenaneurysmen, die gehäuft plötzlich dissektieren und zum Herztod bei Erwachsenen führen können. Bei acht bis 28 Prozent der Frauen gibt es Aortenwurzeldilatationen, in einem Drittel der Fälle bereits vor dem 21. Lebensjahr. UTS-Frauen neigen dazu auch früh zur Hypertonie. Im Bereich der Nieren sind zu 40 bis 59 Prozent Fehlbildungen zu fi nden, die in der Regel jedoch gut behandelbar sind. Durch erweiterte Venen und Hämangiome in der Magenund Darmwand kann es zu Blutungen kommen; Colitis ulcerosa, Morbus Crohn und Zöliakie sind gehäuft. Schilddrüsenfunktionsstörungen (Hashimoto-Thyreoiditis; 60 %) und Glukosetoleranzstörungen (32 %) mit erhöhtem Risiko für Diabetes mellitus vom Typ 1 und Typ 2 machen Stoff wechselkontrollen notwendig.

UTS-Mädchen und -Frauen sind von normaler Intelligenz

Entgegen früheren Darstellungen sind UTS-Mädchen und -Frauen von normaler Intelligenz, aber ihr psychosoziales Befinden ist oft beeinträchtigt. Der Kleinwuchs als eines der Hauptsymptome besteht oft bereits bei der Geburt, die Kinder sind im Mittel um 500 Gramm leichter und drei Zentimeter kleiner als gesunde Neugeborene. Nach der Geburt ist die Wachstumsgeschwindigkeit verzögert, der Pubertätswachstumsschub bleibt aus, und die Körperproportionen sind verschoben. Die Therapie des Kleinwuchses besteht in einer möglichst frühzeitig (3.–5. Lebensjahr, nach den Leitlinien Pädiatrie spätestens ab 6.–8. Lebensjahr) zu beginnenden Wachstumshormontherapie in einem pädiatrisch- endokrinologischen Zentrum (2), wodurch mit einem durchschnittlichen Größengewinn von zehn Zentimetern gerechnet werden kann. Zu Beginn der späteren Pubertätsinduktion sollte eine Größe von 140 bis 150 Zentimeter erreicht werden.

Hormonentwicklungstherapie zur Feminisierung

Das zweite Hauptsymptom des UTS ist die ovarielle Insuffizienz. Doch ohne Estrogene erfolgt keine pubertäre Entwicklung, und die Diff erenzierung der primären Geschlechtsmerkmale ist gestört. Nur Frauen mit einem Mosaik können einen in Größe und Volumen annähernd normalen Uterus bekommen (3). Es kommt zu einer primären Amenorrhö und zur Störung der psychosexuellen Entwicklung. Ziel einer Hormonentwicklungstherapie ist es, UTS-Mädchen zeitgerecht zu den Altersgenossinnen zu feminisieren. Die Therapie sollte optimal mit einem Knochenalter von elf bis zwölf Jahren, das entspricht einem chronologischen Alter von 13 bis 14 Jahren, beginnen. In einem Konsensusmeeting (4) wurde unlängst das Schema einer Hormonentwicklungstherapie festgelegt (Abb. 2). Als Gestagene eignen sich CMA 2 mg, Dydrogesteron 10 mg oder mikronisiertes Progesteron 200 mg (abends). Für die Uterusgröße scheint es von Vorteil zu sein, wenn bei der Hormontherapie keine Pausen eingelegt werden.

Abb. 2: Schema Pubertätsinduktion und hormonelle Substitutionstherapie

Beginn Knochenalter 11 - 12 = chron. Alter 13 - 14

0.-6. Mon.
0,2 mg Estradiolvalerat/Tag

6.-12. Mon.
0,5 mg Estradiolvalerat/Tag

2. Jahr
1-1,5 mg EV/Tag + 2 mg CMA Tag 1-12/Monat

Ab 3. Jahr
2 mg EV/Tag + 2 mg CMA Tag 1-12/Monat oder Kombipräparat (ohne Pausen)

alternative Gestagene:
CMA 2mg; Dydrogesteron 10 mg; Progesteron 200 mg abends

Turner-Syndrom und Infertilität

Eine weitere psychosoziale Einschränkung liegt in der Infertilität. Von den fünf bis zehn Prozent der spontan menstruierenden Mädchen erleben zwei bis fünf Prozent später eine spontane Schwangerschaft, wobei die Abortrate 30 Prozent beträgt. Die peripartale Mortalität liegt bei sieben Prozent, und ein Drittel der ausgetragenen Kinder hat genetische Störungen und Fehlbildungen wie UTS, Morbus Down oder auch Herzfehler. Es stehen hier die Eizellgewinnung mit anschließender Kryokonservierung sowie die Kryokonservierung von Ovarialgewebe im Rahmen des Fertiprotect-Projektes zur Diskussion, um sich zur Zeit noch funktionierender Ovarien die Möglichkeit einer späteren Schwangerschaft zu erhalten. In jedem Fall birgt eine Schwangerschaft neben der psychologischen Belastung ein unkalkulierbares Risiko einer lebensbedrohlichen kardiologischen Dekompensation.

Fazit für die Praxis

Wird eine UTS-Diagnose pränatal gestellt, sollte den Eltern Mut für das Austragen der Schwangerschaft gemacht werden. Die Diagnose sollte spätestens in der frühen Kindheit gestellt werden, um möglichst frühzeitig eine Wachstumshormontherapie einzuleiten. Zu Beginn der Hormonentwicklungstherapie sollten Betroffene in gynäkologische Betreuung übergeben werden. Die Aufgabe besteht dann in der Begleitung der Pubertät, Hilfe bei Entscheidungen der Lebensund Familienplanung, einer Hormonsubstitution bis zur zu erwartenden Menopause und der intensiven multidisziplinären Zusammenarbeit besonders mit Kardiologen und Endokrinologen. UTS-Patientinnen haben eine um zehn Prozent reduzierte Lebenserwartung und brauchen wegen der Langzeitprobleme (Gefahr akuter kardiovaskulärer Probleme, Hypertonie, Diabetes, Dyslipidämie, Hpothyreose, gastrointestinale Probleme, Hörverlust) regelmäßige Kontrolluntersuchungen (Abb. 3). Trotz der notwendigen Disziplin auch seitens der Patientinnen kann das Leben von UTS-Frauen erfüllt und glücklich sein. (8).

Abb. 3: Begleitung einer Turner-Patientin

Jährliche Kontrolluntersuchung:

Klinische Untersuchung (BMI; RR; Auskultation etc.)
Schilddrüsenfunktion
Nüchtern-Lipidprofil + BZ, Leber- und Nierenfunktion

Kontrolluntersuchungen alle 3 - 5 Jahre:

Echokardiografie; Kernspin von Herz und Aorta
Audiogramm
Dermatologische Kontrolle
Knochendichtemessung
Ausschluss Zöliakie und Autoimmunthyreopathie

Hinweis: Der für die Dokumentation der Kontrollen hilfreiche UTS-Pass kann unter der Service-Hotline 0800/1115728 kostenlos angefordert werden.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Ingeborg Voß-Heine
Walburgisstraße 52
59457 Werl
E-Mail: info@noSpam.dr-voss-heine.de
Internet: www.dr-voss-heine.de

Literaturnachweis

(1) Karl C. Mayer: Glossar Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Neurologie, Neuropsychologie: Turner-Syndrom, letztes Update 14.03.09

(2) L. Neumann, J. Kunze: A23 Ullrich-Turner-Syndrom, Leitlinien Stand Januar 2002

(3) H.G. Dörr et al.: Ergebnisse der IGLU Nachuntersuchung: Uterusgrößen von jungen Frauen mit Ullrich- Turner-Syndrom nach Wachstumshormon- Therapie und Östrogensubstitution; Korasion Nr. 3; Oktober 2006

(4) M.B. Ranke, H.G. Dörr: Ersatztherapie mit Sexualsteroiden in der Adoleszenz bei Hypogonadismus – Konsens eines Expertenmeetings; Verlag Wissenschaftlicher Scripten 2008

(5) Recently reviewed Practice Committee report: Increased maternal cardiovascular mortality associated with pregnancy in women with Turner Syndrome; Fertility and Sterility Volume 90; Issue 5, Supplement 1, November 2008, Pages 185–186

(6) D. Bodri et al.: Oocyte Donation in patients with Turner Syndrome: a successful technique but with an accompanying high risk of hypertensive disorders during pregnancy; Hum. Reprod 2006; 21:829–32

(7) Marie Devernay et al.: Determinants of medical care for young women with Turner Syndrome; J Clin Endocrin Metab. May 26, 2009

(8) Otfrid Butenandt: Ullrich-Turner-Syndrom (UTS): Mit der Behandlung muss möglichst früh begonnen werden; Korasion Nr. 3; Oktober 2006

Lena, eine Erfolgsgeschichte aus korasion 3, 2009