Fachwissen

Junge oder Mädchen?

Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD)

Ein Beitrag von Dr. med. Birgit Köhler

aus korasion Nr. 1, Februar 2010

Die erste Frage nach der Geburt: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“, ist bei einigen Neugeborenen nicht sofort eindeutig zu beantworten. Hier ist die spezielle Expertise erfahrener Kinderendokrinologen, Kinderchirurgen, Genetiker und Psychologen im Bereich der Geschlechtsentwicklung gefragt.

Störungen der Geschlechtsentwicklung liegen definitionsgemäß dann vor, wenn chromosomales, gonadales oder phänotypisches Geschlecht nicht übereinstimmen. Eine Konsensusgruppe der European Society for Pediatric Endocrinology (ESPE) und der Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society (LWPES) hat 2006 eine neue Nomenklatur für Störungen der Geschlechtsentwicklung vorgeschlagen: Begriffe wie Intersex, Pseudohermaphroditismus und Hermaphroditismus sollen nicht mehr verwendet werden. Stattdessen hat man sich auf den neuen Begriff „Störungen der Geschlechtsentwicklung“ (Disorders of sex development, DSD) geeinigt (Hughes, Houk et al., 2006). Man unterscheidet zwischen DSD mit Aberrationen der Geschlechtschromosomen, 46,XY-DSD und 46,XXDSD. DSD mit Aberrationen der Geschlechtschromosomen werden das Ullrich-Turner-Syndrom (45,X0 und Varianten), das Klinefelter-Syndrom (47,XXY und Varianten), die gemischte Gonadendysgenesie (45,X0/46,XY), Chimerismus und ovotestikulärer DSD zugeordnet. 46,XY-DSD beinhaltet Störungen der testikulären Entwicklung, Störungen der Androgensynthese oder -wirkung, Störungen der Synthese oder Wirkung des Anti-Müller’schen Hormons (AMH), schwere Hypospadie und kloakale Ekstrophie. Zu 46,XX-DSD gehören Störungen der ovariellen Entwicklung, Androgenexzess (V.a. adrenogenitales Syndrom, AGS), kloakale Ekstrophie, Vaginalatresie und andere Syndrome (Abb. 1).

DSD mit Aberrationen der Geschlechtschromosomen 46,XY-DSD(früher: männlicher Pseudohermaphroditismus 46,XX-DSD (früher: weiblicher Pseudohermaphroditismus)
A) 45,X Turner-Syndrom und Varianten
B) 47,XXY Klinefelter-Syndrom und Varianten
C) 45,X/46,XY gemischte Gonadendysgenesie, ovotestikulärer DSD
D) 46,XX/46,XY Chimerismus, ovotestikulärer DSD
A) Störungen der testikulären Entwicklung
1. komplette Gonadendysgenesie
2. Partielle Gonadendysgenesie
3. Gonadale Regression
4. Ovotestikulärer DSD
B) Störungen der Androgensynthese oder -wirkung
1. Störungen der Androgensynthese, z. B. LHRezeptor-, SF1-, Star-Defekte, 3-HSD-II, 17-HSD-III-, 5?-Reduktase-II-Mangel
2. Störungen der Androgenwirkung (CAIS, PAIS) Androgenrezeptordefekte
4. Störungen des AMH/AMH-Rezeptors persistierende Müller’sche Strukturen
C) andere z. B. schwere Hypospadie, kloakale Ekstrophie
A) Störungen der ovariellen Entwicklung
1. Gonadendysgenesie
2. Ovotestikulärer DSD
3. Testikulärer DSD
B) Androgenexzess
1. Fetal: Adrenogenitales Syndrom; 21-Hydroxylase-Mangel; 11-Hydroxylase-, 3-HSD-IIMangel
2. Fetoplazentär: Aromatasemangel, P450-Oxidoreduktase-Mangel
3. mütterlich (z. B. Luteom, exogen)
C) andere z. B. kloakale Ekstrophie, Vaginalatresie, MURCS, andere Syndrome

Abb. 1: Neue Klassifikation der Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD) der Konsensusgruppe der LWPES/ESPE 2006

Geschlechtsdeterminierung und -differenzierung

Initial wird das genetische Geschlecht durch die Geschlechtschromosomen als weiblich (46,XX) oder männlich (46,XY) definiert. Während der Embryonalphase (1.–12. SSW) findet die Geschlechtsdeterminierung, in der Fetalphase (12.–40. SSW) die -differenzierung statt. Von der indifferenten Urogenitalleiste ausgehend entwickeln sich bei einem 46,XY-Karyotyp Testes und Wolff’sche Strukturen (Samenleiter, Nebenhoden, Samenbläschen) sowie bei einem 46,XX-Karyo-typ Ovarien und Müller’sche Strukturen (Uterus, Eileiter, proximale Vagina). Aus dem indifferenten embryonalen äußeren Genitale mit Genitalhöcker, Labioskrotalwülsten und Urogenitalfurche bildet sich entweder das männliche oder weibliche äußere Genitale. Die Determinierung und Differenzierung der Testes ist ein komplexer Prozess, der durch die Interaktion verschiedener Gene (WT1, SF1, SRY, SOX9, DMRT1/2, ATRX, DHH, MAMLD1 und DAX1) reguliert wird. Im Gegensatz dazu wurden bisher nur drei Gene (WNT4, SOX9, RSPO1) beschrieben, die bei der Entwicklung des Ovars involviert sind. Für die männliche Geschlechtsdifferenzierung ist das von den Leydigzellen des Hodens produzierte Testosteron, die von der 5?-Reduktase II peripher synthetisierte aktive Form Dehydrotestosteron (DHT) und das von den Sertolizellen des Hodens gebildete AMH notwendig. Die weibliche Geschlechtsdifferenzierung findet ohne Testosteronund AMH-Wirkung statt. Aus dem indifferenten Genitale bildet sich ohne Testosteronwirkung das weibliche äußere Genitale, und die Wolff’schen Gänge bilden sich zurück. Aus dem Genitalhöcker entsteht die Klitoris, aus den Labioskrotalwülsten die Labiae majorae und minorae sowie die distale Vagina. Die Müller’schen Gänge differenzieren sich zu Uterus, Eileiter und proximaler Vagina.

Psychosexuelle Entwicklung

Die psychosexuelle Entwicklung wird in drei Komponenten unterteilt: die Geschlechtsidentität, die Geschlechtsrolle (geschlechtstypisches Verhalten, stark beeinfl usst durch familiäre und gesellschaftliche Prägung) sowie die sexuelle Orientierung. Unzufriedenheit mit dem zugewiesenen Geschlecht tritt häufiger bei Betroffenen mit DSD auf. Es ist schwierig vorherzusagen, was die Geschlechtsunzufriedenheit bei DSD verursacht: die direkte Genwirkung, die pränatale Androgenwirkung, die genitale Virilisierung, eine falsche Geschlechtszuweisung oder familiäre/gesellschaftlich Prägung.

Störungen der Geschlechtsdeterminierung und -differenzierung

Bei DSD mit Aberrationen der Geschlechtschromosomen führen nur die gemischte Gonadendysgenesie (45,X0/ 46,XY) oder Chimerismus aufgrund der Störung der Gonadenentwicklung zur Virilisierungsstörung des Genitales und Störung der psychosexuellen Entwicklung. Bei 46,XYDSD resultieren eine testikuläre Entwicklungsstörung, verminderte Testosteronproduktion oder -wirkung in einer kompletten oder partiellen pränatalen Untervirili sierung des männlichen Genitales. Liegen komplette Defekte vor, so ist das äußere Genitale aufgrund der fehlenden Testosteronwirkung komplett weiblich. Da Testes mit normaler AMH-Produktion vorhanden sind, ist kein Uterus nachweisbar. Bei partiellen Defekten liegt ein intersexuelles äußeres Genitale mit hypoplastischem Phallus, Hypospadie und Testes vor. Manchmal ist ein Uterus- oder Vaginalrest aufgrund der ebenfalls nur partiellen AMH-Sekretion nachweisbar. 46,XX-DSD mit Störung der ovariallen Entwicklung zeigen eine normale Entwicklung des äußeren und inneren weiblichen Genitales. 46,XX-DSD mit vermehrter Testosteronproduktion führen bei Mädchen zur pränatalen Virilisierung des äußeren weiblichen Genitales mit Klitorishypertrophie sowie Sinus urogenitalis durch Fusion der Labioskrotalfalten (46,XX-DSD).

46,XX-DSD mit intersexuellem Genitale

Die häufigste Störung der Geschlechtsentwicklung ist das AGS als 46,XX-DSD. Es kann ein inkompletter bis kompletter Defekt der Kortisol- und Aldosteronsynthese vorliegen. Die kompensatorisch erhöhte ACTH-Sekretion führt insbesondere zu einer Erhöhung der Androgene. Bei den betroffenen Mädchen liegt bei Geburt eine ausgeprägte genitale Virilisierung mit Klitorishypertrophie und Sinus urogenitalis vor. Ursache des AGS ist in Mitteleuropa in über 90 Prozent der Fälle der 21-Hydroxylasemangel. Diagnostisch wegweisend ist beim 21-Hydroxylasemangel das vor dem Enzymdefekt liegende Hormon 17-Hydroxyprogesteron (17-OHP). Beim kompletten 21-Hydroxylasemangel versterben die Kinder in den ersten Lebenswochen an einer Salzverlustkrise, sofern nicht rasch eine Substitutionsbehandlung mit Kortisol und dem mineralokortikoidwirksamen Fludrokortison eingeleitet wird.

46,XY-DSD mit äußerlich weiblichem Genitale

1. Komplette Androgeninsensitivität

Die komplette Androgeninsensitivität (CAIS) ist eine der häufigsten 46,XY-DSD mit äußerlich normal weiblichem Genitale. Ursache sind Mutationen des Androgenrezeptors mit komplettem Funktionsverlust. Die jungen Mädchen stellen sich in der Regel erst im Pubertäts- oder jungen Erwachsenenalter mit primärer Amenorrhö vor. Bei der klinischen Untersuchung findet sich eine normal entwickelte Brust (Tanner-Stadium IV-V) sowie fehlende bis sehr spärliche Scham- und Axillarbehaarung (Tanner-Stadium I-II). Die gynäkologische Untersuchung zeigt eine blind endende, etwas verkürzte Vagina. Sonografisch ist kein Uterus nachweisbar. Abdominelle oder inguinale Testes sind vorhanden. Laborchemisch zeigt sich eine deutliche Testosteronerhöhung, leicht erhöhte Gonadotropine und normale Estradiolspiegel. Die AMH-Produktion der Testes ist nicht beeinträchtigt und führt zur Hemmung der embryonalen Entwicklung von Uterus, Eileitern und proximaler Vagina. Die verkürzte Scheide lässt sich in der Regel mit einer Dehnbehandlung durch die Betroffenen selbst zu einer Scheide normaler Funktion verlängern. Eine Vaginoplastik sollte erst als zweiter Schritt nach erfolgloser konservativer Dehnung oder bei ausdrücklichem Wunsch der Betroffenen erfolgen. Eine Entfernung der Testes wird aktuell bis zum Abschluss der Pubertät nicht empfohlen, da das Entartungsrisiko vor der Pubertät sehr gering ist. Eventuell können die Testes auch danach belassen werden und durch Ultraschall regelmäßig kontrolliert werden. Der Vorteil, die Testes zu belassen, besteht darin, daß die eigene Hormonproduktion und körperliche Integri tät erhalten bleibt und keine exogene Estrogensubstitution notwendig ist. Differenzialdiagnose des CAIS ist das Mayer-Rokitansky- Küster-Hauser-Syndrom (MRKH) mit normaler Entwicklung von Brust und Pubes.

2. Komplette Gonadendysgenesie

Eine weitere häufige Ursache von 46,XY-DSD ohne äußerliche Virilisierung ist die komplette 46,XY-Gonadendysgenesie (Swyer-Syndrom). Betroffene Patientinnen stellen sich in der Regel im Pubertätsalter wegen fehlender Brustentwicklung oder primärer Amenorrhö vor. Die klinische Untersuchung zeigt eine fehlende Brustentwicklung bei normalen Pubes (Tanner- Stadium IV-V). Ein Uterus ist vorhanden. Gonaden sind nicht nachweisbar. Die Vagina ist normal weiblich entwickelt. Die häufigste Ursache sind in etwa zehn Prozent der Fälle SRY-Mutationen. Auch SF1- Mutationen können ursächlich vorliegen. In den meisten Fällen kompletter 46,XY-Gonadendysgenesie ist die genetische Ursache jedoch noch unklar. Das Entartungsrisiko ist hoch, und es sollte frühzeitig eine Gonadektomie erfolgen. Differenzialdiagnose der kompletten 46,XY-Gonadendysgenesie ist die 46,XX primäre Ovarinsuffizienz, welche durch eine Chromosomenanalyse abgegrenzt werden kann, sowie ein Ullrich-Turner- Syndrom. Auch Mädchen mit 17-Hydroxylase/17,20- Lyasemangel zeigen eine ausbleibende Pubertätsentwicklung (Abb. 5).

3. Seltene Ursachen von 46,XY-DSD mit äußerlich weiblichem Genitale

Selten verursachen komplette Androgensynthesedefekte (LH-Rezeptordefekt, 17-HSD-III-, 5?-Reduktase- II-Mangel) 46,XY-DSD mit äußerlich weiblichem Genitale. Allen drei Defekten ist gemeinsam, dass kein Uterus, aber Testes vorhanden sind. Bei LH-Rezeptordefekt und 17-HSD-III-Mangel liegen niedrige Testosteronspiegel vor. Beim 17-HSD-III-Mangel ist das vor dem Defekt liegende Androstendion erhöht. Beim 5?-Reduktase-II-Mangel liegen normale bis erhöhte Testosteronspiegel bei erniedrigtem DHT vor. Betroff ene mit 17-HSD-III-oder 5?-Reduktase-II-Mangel stellen sich in der Pubertät häufig aufgrund von Virilisierung (Phalluswachstum) vor. Diese wird beim 5?-Reduktase- II-Mangel durch eine normale DHT-Synthese verursacht, die durch die Reifung des Isoenzyms 5?-Reduktase I bedingt ist. Beim 17-HSDIII-Mangel kommt es durch den pubertären LH-Anstieg zur vermehrten Bildung von Androstendion sowie dessen Konversion zu Testosteron zur Virilisierung.

46,XY-DSD mit intersexuellem Genitale

Partielle Androgeninsensitivität (PAIS) oder partielle Androgensynthesedefekte und inkomplette 46,XY-Gonadendysgenesie führen zu 46,XYDSD mit intersexuellem Genitale bei Geburt. Es liegt eine ausgeprägte Virilisierungsstörung mit hypoplastischem Phallus, schwerer Hypospadie oder Sinus urogenitalis vor. Normal große bis hypoplastische Testes sind abdominell oder inguinal vorhanden. Bei intakter testikulärer AMH-Produktion wird die Uterusentwicklung gehemmt, bei partieller AMH-Sekretion findet sich gelegentlich ein rudimentärer Uterus mit proximalem Vaginalrest. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa 15 Prozent partieller 46,XY-Gonadendysgenesien mit isolierter Störung der Testosteronsynthese durch Mutationen des Steroidogenic-Factor-1 (SF1), einem der wichtigsten Regulatoren der Gonaden- und Nebennierenentwicklung und der Steroidogenese, verursacht werden (Kohler, Lin et al., 2008). Zur Differenzierung zwischen inkompletter Gonadendysgenesie und partiellem Androgenrezeptor-/- synthesedefekt können Inhibin-B oder AMH als Marker der Sertolizellfunktion der Testes herangezogen werden.

Diagnostik beim Neugeborenen mit intersexuellem Genitale

Bei intersexuellem Genitale des Neugeborenen sollte sofort ein Ultraschall des inneren Genitales erfolgen. Sind Uterus und Ovarien vorhanden, handelt es sich um ein virilisiertes Mädchen und in fast allen Fällen um ein AGS aufgrund eines 21-Hydroxylasemangels. Zusätzlich zum Neugeborenen- Screening sollten Testosteron und Androstendion laborchemisch bestimmt werden. Ob ein klassisches AGS mit Salzverlust vorliegt, kann durch die genetische Analyse des 21-Hydroxylasegens in den meisten Fällen festgestellt werden. Sind Testes palpabel oder sonografisch nachweisbar und ist kein Uterus oder nur ein Uterusrest nachweisbar, liegt ein 46,XYDSD vor. Findet man auf einer Seite einen Hemiuterus mit Streak-Gonade und auf der anderen Seite einen Testis, so handelt es sich um eine gemischte Gonadendysgenesie (45,X0/46,XY). Eine Chromosomenanalyse und umfassende hormonelle Diagnostik sind erforderlich.

Geschlechtsentscheidung und Therapie beim Neugeborenen mit intersexuellem Genitale

Bei Neugeborenen mit intersexuellem Genitale handelt es sich zu etwa 90 Prozent um Mädchen mit AGS (46,XXDSD), bei den restlichen zehn Prozent um 46,XY-DSD oder gemischte Gonadendysgenesie (45,X/46,XY). Bei 46,XX-DSD aufgrund von 21-Hydroxylasemangel ist die Geschlechtsentscheidung einfach. Es handelt sich um virilisierte und später fertile Mädchen. Durch die pränatale Androgenerhöhung liegen eine angeborene Klitorishypertrophie und ein Sinus urogenitalis vor. Die Klitorishypertrophie bildet sich unter einer adäquaten Kortisonsubstitution immer zurück. Oft bleibt eine etwas vergrößerte Klitoris, die eine normale weibliche Entwicklung nicht stört. Eine Klitorisreduktionsplastik ist in fast allen Fällen nicht indiziert und nur bei einem Prader-Stadium 5 (männlicher Phänotyp) erforderlich. Aktuell wird von der ESPE/LWPES bei AGS und Sinus urogenitalis eine frühe Vaginoplastik während der ersten sechs Monate in einem spezialisierten Zentrum empfohlen, da die kosmetischen und funktionellen Ergebnisse deutlich besser sind als bei einer Vaginoplastik im Pubertätsalter. Leider liegen hierzu noch keine Langzeitergebnisse vor. Zwischen dem ersten Lebensjahr und dem Pubertätsalter sollten keine vaginalen Rekonstruktionsoperationen erfolgen. Von einigen Ärzten wird empfohlen, die Entscheidungsfähigkeit der Mädchen abzuwarten und die Vaginoplastik in der Adoleszenz durchzuführen. Bei 46,XY-DSD, gemischter Gonadendysgenesie (45,X0/ 46,XY) oder ovotestikulärem DSD ist eine Geschlechtsentscheidung im Neugeborenenalter schwieriger. Sind Hoden und ein ausreichend großer Phallus, gegebenenfalls nach Testosteronbehandlung, vorhanden, sollte primär zugunsten des männlichen Geschlechtes und einer frühen Maskulinisierungsoperation entschieden werden. Bei Entscheidung für das weibliche Geschlecht sollte möglichst keine genitale Rekonstruktionsoperation im Säuglingsalter durchgeführt, sondern vielmehr die Entscheidungsfähigkeit des Kindes abgewartet werden.

Geschlechtsidentität bei AGS und 46,XYDSD

Fast alle Patientinnen mit CAIS, kompletter 46,XY-Gonadendysgenesie und direkt postnatal behandeltem AGS haben eine weibliche Geschlechtsidentität. Nur in vereinzelten Fällen wurde ein Geschlechtswechsel von weiblich zu männlich im Erwachsenenalter beschrieben. Frauen mit AGS zeigen im Vergleich zur Normalbevölkerung etwas vermehrt homosexuelle Neigungen (Meyer- Bahlburg, Dolezal et al., 2008). Bei Betroffenen mit 5?-Reduktase-II- und 17- HSD-III-Mangel und weiblicher Geschlechtszuweisung findet sich im Erwachsenenalter eine hohe Geschlechtsunzufriedenheit (50 bis 60 Prozent), und oft findet ein Geschlechtswechsel von weiblich zu männlich statt. Auch bei PAIS und inkompletter Gonadendysgenesie (25 Prozent) sowie bei gemischter Gonadendysgenesie (50 Prozent) liegt eine hohe Geschlechtsunzufriedenheit im Erwachsenenalter vor.

Fazit für die Praxis – Betreuungskonzept für DSD

Störungen der Geschlechtsentwicklung sind komplexe Krankheitsbilder, welche die sexuelle Integrität sowohl körperlich als auch psychisch betreffen. Fast immer sind zur Erreichung einer normalen Pubertätsentwicklung und sexuellen Funktionsfähigkeit hormonelle Behandlungen und genitale Rekonstruktionsoperationen notwendig. Die Betroffenen sind meist infertil. Aufgrund der Andersartigkeit sind psychosexuelle Entwicklungsstörungen
häufig. Eine kontinuierliche Begleitung und Stärkung der Familien sowie eine altersgemäße Aufklärung der Kinder sind erforderlich. Daher sollte die Betreuung von Kindern mit DSD und ihren Eltern durch ein spezialisiertes multidisziplinäres Team aus Kinderendokrinologen,
Chirurgen, Genetikern, Gynäkologen, Psychologen und eventuell Betroffenen erfolgen.

Quellenhinweis:

Literaturliste auf Anfrage bei der Redaktion erhältlich unter
E-Mail: redaktion@noSpam.gyne.de

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Birgit Köhler
Otto-Heubner-Centrum für Kinder- und Jugendmedizin,
Charité,
CVK Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ) für chronisch kranke Kinder
Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie
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