Fachwissen

Jugendmedizin – Gesundheit und Gesellschaft

Herausgegeben von Bernhard Stier und Nikolaus Weissenrieder
548 S. mit  90 Abb. und 78 Tab.
Springer Medizin Verlag  Heidelberg  2006
Geb. € 64,95

Ausführliche Buchbesprechung von Dr. med. Marlene Heinz:

Die Herausgeber, der Kinder- und Jugendarzt B. Stier und der Kinder/Jugendarzt und Frauenarzt N. Weissenrieder beschreiten mit diesem Buch einen interessanten und sicherlich notwendigen neuen Weg im Herangehen in der Reihe der seit Anfang dieses Jahrhunderts erschienenen Handbücher über (Kinder)- und Jugendmedizin.

Die neue Qualität zeigt sich darin, dass Symptome und Erkrankungen im Jugendalter, praktisch als roter Faden, im Kontext mit den Entwicklungsbedingten Besonderheiten der Jugendlichen dargestellt werden. Hier wird die klare medizinische Sicht mit der notwendigen Frage "sind Jugendliche anders?", mit den individuellen Problemen der Jugendlichen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld verbunden.

Es ist den Herausgebern gelungen aus unterschiedlichen Fachbereichen 60 Autoren so zusammenzuführen, dass gemeinsam mit deren spezifischer Sicht und Erfahrung in der Betreuung Jugendlicher ein gut strukturiertes Handbuch als Einheit von komplexen Fragen und Problemen der Jugendmedizin und Gesellschaft entstanden ist. Hier erweisen sich die mitunter redundant erscheinenden Betonungen oder Wiederholungen in den verschiedenen Kapiteln als wertvolle, das jeweilige Verständnis vertiefende didaktische Mittel.

Aus Sicht einer langjährig kinder- und jugendgynäkologisch tätigen und klinisch erfahrenen Gynäkologin lebt die Gesamtheit des Werkes von der praktischen Erfahrung der Autoren, ohne dabei die theoretischen Hintergründe zu vernachlässigen.

So ist der Abschnitt "Entwicklung von Jugendlichen" mit der Abhandlung von körperlicher und psychosozialer Entwicklung einschließlich Sexualität unter gleichzeitiger Beeinflussung durch Körperbildprobleme ein profunder Einstieg, um gesundheitliche Probleme und Risiken jugendlicher Mädchen und Jungen im Zusammenhang zu erkennen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Im Abschnitt "Der Jugendliche in der Gesellschaft" werden u.a. Problemverhalten und Rolle der Medien kritisch aufgearbeitet und Besonderheiten ausländischer und behinderter Jugendlicher sowohl aus medizinischer als auch psychologischer Sicht vielfach spannend nachvollziehbar dargestellt. Der Abschnitt "Der Jugendliche in der Praxis" gibt u.a. praktische Tipps zur Durchführung jugendmedizinischer Sprechstunden, zu Gesprächsführung und psychosozialer Einfühlung und Begleitung, zur J1 und zum Jugendarbeitsschutz. In "Spezielle Jugendmedizin" werden wesentliche endokrinologische, kardiologische, onkologische und andere Krankheitsbilder besprochen, wobei hier im wesentlichen dem Ordnungsprinzip reiner Symptomatik gefolgt wird.
"Jugendspezifisch-medizinische Probleme" wie psychische und somatische Veränderungen bei der vorzeitigen und verzögerten Reife, Haut- und Haarprobleme, Essstörungen, Adipositas, Somatisierungsstörungen, Jugendgynäkologie, Jungenmedizin Gewalt und Verhaltensauffälligkeiten werden überwiegend in Verbindung mit den  Entwicklungsbedingten Besonderheiten Jugendlicher betrachtet. Die unter "Problemorientierte Jugendmedizin" zusammengefassten Kapitel über Unfälle, Impfungen, Drogen, Kontrazeption, STD und Gesundheitsvorsorge sind wertvolle Informationen zum Thema Prävention.
Zwei weitere Abschnitte geben nützliche Hinweise zu Netzwerken mit Präzisierung der interdisziplinären Zusammenarbeit incl. Informationen zum öffentlichen Gesundheitsdienst bzw. über die internationale Jugendmedizin.

Wenn insgesamt Symptome und Krankheitsbilder formal nur etwa 50% des Werkes ausmachen, berücksichtigen sie doch auch in diesen somatischen Kapiteln vielfach die jeweiligen Besonderheiten Jugendlicher wie mangelnde Compliance, Rolle der Peer-Gruppe, Einflüsse der Familie, des soziokulturellen Umfeldes und der gesellschaftlichen Bedingungen. Die andere Hälfte der Abhandlungen ist dann aber explizit auf die unterschiedlichen, gesellschaftlich bedingten Auswirkungen auf Jugendliche in dieser physiologischen Umbruchphase gerichtet. Die Orientierung der Herausgeber auf weitgehend kritische Betrachtungen dieser Zusammenhänge und ihrer möglichen gesundheitlichen Folgen oder psychischen Erscheinungen fördert über das Verstehen Lösungswege zu erkennen, die Jugendlichen zu beraten und ihnen hilfreich zur Seite zu stehen. Im besonderen wird hier auf die vielschichtigen interdisziplinären Möglichkeiten und Erfordernisse mit all ihren kritisch angemerkten Problemen eingegangen.

Der mehr als 100 Seiten umfassende Anhang  mit  Formularen, Fragebögen, Checklisten, Perzentilen-Kurven für Wachstum und Gewicht, Untersuchungsplänen, Internetadressen u.v.a.m. ist für die Praxis vielfach wertvoll. Hier sind besonders die differenzialdiagnostischen, algorithmischen Schemata hervorzuheben, die in ihrer Gesamtheit für den Praktiker die zwar ungewohnte, aber um so nützlichere Ausbildung von Engrammen trainieren. Dass der wünschenswerten Einheitlichkeit der Vielzahl von Flussdiagrammen nicht gefolgt wird, sei kritisch angemerkt. Das jedem Kapitel anhängende Literaturverzeichnis ist für vertiefende Informationen wertvoll, das Sachverzeichnis ist allerdings zu wenig differenziert.
 
Das umfangreiche Handbuch wird  von der Rezensentin als aktuelles, umfassendes Nachschlagewerk nicht nur Kinder- und Jugendärzten wärmstens  empfohlen, sondern auch Kollegen anderer Fachdisziplinen, die mit Problemen Jugendlicher konfrontiert sind. Wer über den "Tellerrand" der "reinen Jugendmedizin" hinaus die Probleme Jugendlicher wirklich begreifen und lösen möchte und für die tägliche Arbeit fachliche und organisatorische Unterstützung sucht, sollte das Buch an seinem Arbeitsplatz haben.

Dr. med. Marlene Heinz                       
24. Januar 2006