Fachwissen

Praktische Adoleszentenmedizin

Franziska Baltzer
Verlag Hans Huber, Bern 2009
243 Seiten;
ISBN: 978-3-456-84692-7

€ 29.95

Ausführliche Buchbesprechung von Ingeborg Voß-Heine:

Den Herausgebern und der Verfasserin dieses Buches ist es gelungen, ein Buch mit praktischen Anleitungen für den Umgang mit Jugendlichen in der Sprechstunde zu schaffen.

Die aus der Schweiz stammende Frau Dr. Baltzer ist Director Division of Adolescent Medicine, Department of Pediatrics an der McGill Universität, Montreal, Kanada. Sie ist eine erfahrene Pädiaterin, die sich auf Adoleszentenmedizin spezialisiert hat. Sie engagiert sich dafür, Mädchen und Jungen die bestmögliche präventive Medizin zukommen zu lassen. Sie propagiert dabei eine ‚Adolescent Friendly Health Care’, das hier vorgestellte Buch ist als eine aus persönlicher Sicht geschriebene Anleitung zum empathischen Umgang mit Jugendlichen in der tägliche medizinischen Praxis, gerichtet in erster Linie an Pädiater, Grundversorger in der Ausbildung und etablierte Allgemeinärzte.

Im Vorwort weist die Autorin darauf hin, dass ihr Buch nicht den Anspruch eines Lehrbuches über Adoleszentenmedizin habe, sondern dass es sich beschränke auf die häufigsten Krankheitsbilder, mit denen Mädchen und Jungen eine Sprechstunde konsultieren, Es folgen 3 Übersichtskapitel (Allgemeines, Probleme der sexuellen Entwicklung und Probleme der psychischen Entwicklung), die in einzelne Kapitel unterteilt sind (1-18). Die einzelnen Kapitel werden durch grau unterlegte Patientengeschichten lebensnah besprochen und verdeutlicht, am Ende jedes Kapitels finden sich in Kastenform wesentliche Merksätze.

Leider fehlen sowohl am Ende der Kapitel als auch am Ende des Buches Literaturangaben, womit viele persönliche, aber durchaus strittige Aussagen und Meinungen der Autorin in den einzelnen Kapiteln nicht belegbar werden.

Im Kapitel 1 (Allgemeines) beschreibt die Autorin die Entwicklung in der Adoleszenz auf biologischer, psychologischer, sozialer und spiritueller Ebene anhand von Fallbeispielen, um darauf hin zu weisen, dass ein unharmonischer Ablauf der vier Entwicklungsebenen zu Problemen im Verhalten der Jugendlichen führen kann. Besonders bemerkenswert sind ihre Grundsätze der Adolezentenmedizin, (S. 33-41) Hier geht es der Autorin um die respektvolle und urteilslose Begegnung mit den Jugendlichen unter Einbeziehung seines gesamten Lebensgefüges, beispielsweise dargestellt am Anamneseschema HEADSS (Home, Education, Activity, Drugs, Sex, Suicide =selbstzerstörerische Handlungen).

Jugendlichen mit chronischen Krankheiten begegnet die Autorin besonders empathisch und macht sehr lebensnah deren Problematik klar, ob bei angeborenen, in der Kindheit beginnenden oder typischerweise in der Pubertät beginnenden chronischen Krankheiten, wobei es ihr wichtig ist, gerade auch diesen Jugendlichen so weit wie möglich zur Selbstbestimmung und Eigenkontrolle ihrer besonderen Situation zu verhelfen. Aus gynäkologischer Sicht kann in diesem Kapitel die Meinung, ein IUP würde bei Mukoviszidose das Risiko einer Beckenvenenthrombose fördern, nicht unwidersprochen bleiben.

So sind besonders im Kapitel 2 (Probleme der Sexuellen Entwicklung) in den Kapiteln Antikonzeption, Menstruationsstörung; Brust des adoleszenten Mädchens und unspezifische Entzündungen von Vulva und Vagina aus gynäkologischer Sicht viele Unstimmigkeiten und diskussionswürdige Aussagen, z.B. im
Kapitel Antikonzeption:
die Aussage, die Pille verringere das Risiko eines Cervixkarzinoms, die Ansicht, eine positive Familienanamnese für Brustkrebs sei eine relative Kontraindikation für OVH, die Selbstverständlichkeit der Langzyklusanwendung von Antikonzeptiva, der fehlender Hinweis auf die Osteoporose fördernden Wirkung von Depot-Gestagenen, die Angabe von 5 Jahren zur Liegedauer von subcutanen Depots (Implanon nur 3 Jahre!), die Meinung, bei Diabetikerinnen habe ein IUP eine erniedrigte Verhütungspotenz, die nur oberflächlichen Aussagen zu OVH und Epilepsie. Auch fehlen im Spektrum die reine Gestagenpille und Einmaldosierungen bei der Pille-danach, möglicherweise sind diese in Kanada noch nicht verfügbar.

Kapitel Menstruationsstörung/Ovarialschmerz:

die Aussage, eine Ultraschalluntersuchung sei bei Blutungsstörungen meist nicht indiziert, die Meinung, das PCO typische Muster des Ovars sei bei Jungendlichen praktisch nie zu beobachten, die Meinung, follikuläre Ovarialzysten verursachten keine Schmerzen.

Kapitel unspezifische Entzündungen von Vulva- und Vagina:

Die Empfehlungen zur pflanzlichen Behandlung mit Teebaumöl oder Mandelöl, um Resistenzentwicklungen von Antimykotika zu vermeiden.

Gut und sehr ausführlich beschrieben ist im Kapitel 7 das häufiger als angenommene Auftreten von Muskelfaserrissen der Bauchdecke in der DD des Abdominalschmerzes.

Das Kapitel 3 (Probleme der psychischen Entwicklung) widmet sich dem Thema Ernährung in der Adoleszenz mit den Formen der Essstörungen, den Themen Drogen- und Medienkonsum, den Besonderheiten der Gewalt gegen Jugendliche in heutiger Zeit und der Problematik des riskanten Verhaltens und der Selbstverletzungstendenzen und macht ganz besonders die Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen heute deutlich. Hier werden wertvolle Tipps gegeben, sich als Behandler diesen Themen zu nähern, die der Lebenswelt der Erwachsenen eher fremd sind.

Das vorgestellte Buch ist kein Basiswerk für Kinder- und Jugendmedizin. Es ist sinnvoll für die, die über ein fundiertes Basiswissen verfügen und nach neuen Wegen suchen, sich jugendlichen Patientinnen und Patienten urteilsfrei und empathisch zu nähern. Es ist ein zusammenhängender Überblick aus der Sicht der Autorin über die Vorgänge und Probleme der Adoleszenz, der durch die Fallbeispiele anschaulich und lebensnah wird. Uns Mediziner sensibilisiert das Buch wie selten eines für die Probleme der sexuellen, psychischen und körperlichen Entwicklung, die Lebenswelt der Jugendlichen und deren Verhalten gegenüber Gesundheit und Krankheit und gibt wichtige und lebensnahe Tipps zum Umgang damit.

Ingeborg Voß-Heine