Fort- und Weiterbildung

23. bis 25. März 2001:

Berichterstattung zum 4. Berliner Symposium

aus korasion Nr. 2, Mai 2001

Das 4. Berliner Symposium für Kinder- und Jugendgynäkologie fand – wie auch die früheren Symposien – in der Charité statt. Es war mit etwa 300 Teilnehmern gut besucht. Die österreichische und die schweizerische Arbeitsgemeinschaft waren u.a. mit den Professoren W. Grünberger und G. Tscherne sowie mit Frau Dr. S.-Ch. Renteria und Frau Dr. F. Navratil vertreten. Außerdem war der Schatzmeister der internationalen Gesellschaft zugegen, Prof. J. Horejsí aus Prag. Aus Budapest war Frau Dr. J. Örley angereist und aus Sofia/Bulgarien Dr. M. Sirakov. Unter den Referenten waren zahlreiche  Kinderärzte ebenso wie Frauenärzte vertreten. So kam auch bei diesem Symposium die interdisziplinäre Zusammenarbeit  zwischen den beiden Fächern zum Tragen.

Gleich beim ersten thematischen Schwerpunkt ergänzten sich die jeweiligen fachlichen Gesichtspunkte. Es ging um Endokrinologie: Adipositas und PCO-Syndrom. Prof. W. Kiess porträtierte auf der Basis der großen Studie an der Universitäts-Kinderklinik Leipzig das Übergewicht beim Kind als großes und folgenreiches Problem. Er zeigte auf, dass eine Adipositas ins zweite Lebensjahrzehnt persistiert und das Risiko für die Entstehung einer Oligo-/Amenorrhoe begründet – ein Symptom, das bei einem Body-Mass-Index von 29 vier- bis fünfmal häufiger vorkommt als in der Normalpopulation. Frau D. l‘Allemand vertiefte die Aussagen von W. Kiess in ihrem Beitrag: „Wie Körpermasse, Leptin und IGF-I zur  Hyperandrogenämie bei adipösen Kindern beitragen“. A.S. Wolf/Ulm nahm das Thema aus gynäkologischer Sicht auf und schilderte die Bedeutung der viszeralen Adipositas für die Diagnosestellung. Allein die Ganzkörperinspektion und die Messung des Taillenumfangs geben schon Hinweise auf ein Risiko für das Entstehen eines PCO-Syndrom. Dessen wichtigsten Anzeichen – Oligo-/Amenorrhoe und Hirsutismus – sind ebenfalls leicht bei der Erhebung der Anamnese bzw. bei der Inspektion zu erkennen.

PCO-Patientinnen neigen zu späteren Erkrankungen mit langjähriger Pflegebedürftigkeit und hoher Mortalität. Also sind Früherkennung und Behandlung mandatorisch. Die beim PCO-Syndrom zugrundeliegende Hyperandrogenämie kann in fast der Hälfte der Fälle schon bei acht- bis neunjährigen Mädchen erkannt werden  – so Prof. H.G. Dörr in seinem Beitrag. Denn 45 % der Mädchen mit PCO-Syndrom  haben eine prämature Adrenarche, auf die ein frühzeitiges Erscheinen der Pubes aufmerksam macht. Daneben spielt ein vermindertes Geburtsgewicht eine prädiktive Rolle. M. Sirakov bestätigte die Dringlichkeit der frühzeitigen Diagnose beim PCO-Syndrom und erörterte das klinische Bild dieser in vielen Punkten noch nicht geklärten Erkrankung.

Aus Ungarn berichtete Frau J. Örley, dass die Zahl perimenarchealer adipöser Mädchen seit Jahren zunimmt. Die heute 14jährigen adipösen Patientinnen weisen fast 20 kg mehr an Gewicht auf als die gleichaltrigen Mädchen der 80er Jahre.

In den Beiträgen zu den Entwicklungsstörungen befasste sich V. Hesse mit der Diffentialdiagnose des Minderwuchses und den Ursachen für das Ausbleiben der Menarche: Es wurde unter anderem die Indikation zur Hormonsubstitution erörtert. Die isolierte prämature Pubarche wurde von H.G. Dörr, die isolierte prämature Thelarche von A. Grüters abgehandelt, wobei jeweils die rationelle Diagnostik, die Differentialdiagnose und die Therapie sowie auch mögliche Spätfolgen zur Sprache kamen.

Die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung wurde wiederum aus pädiatrischer Sicht von H.P. Schwarz/München und aus gynäkologischer Sicht von G. Tscherne/Graz erörtert: Die Erkennung von Entwicklungsanomalien ist eine vordringliche Aufgabe in der Kinder- und Jugendgynäkologie. Das interdisziplinäre Zusammenwirken von Kinderärzten und Frauenärzten kann sich in diesem Bereich besonders segensreich auswirken.

Die Frauenärzte haben immer auch die Fertilität im Visier, um den Mädchen alle Optionen für ihre spätere Lebensgestaltung offenzuhalten. J. Horejsi/Prag erörterte die Zusammenhänge bei angeborenen genitalen Fehlbildungen, wobei er die Bedeutung einer exakten Differentialdiagnose betonte. Heute können wir dank der Hormontherapie selbst in früher als aussichtslos betrachteten Fällen eine normale Entwicklung erreichen, die Voraussetzungen für eine befriedigende  Sexualität schaffen und schließlich – mit reproduktionsmedizinischen Verfahren – womöglich auch eine Gravidität ermöglichen.

Bei den operativen Interventionen werden die gleichen Ziele verfolgt. Frau Ch. Deppe/München-Großhadern ergänzte das Thema durch einen Bericht über die postoperativen Ergebnisse nach laparoskopischer Anlage einer Neovagina. In Großhadern wird die Vecchietti-Operation bevorzugt.

Frau S. Gericke/Berlin legte eine Statistik operativ behandelter Mädchen mit Ovarialtumoren aus dem großen Krankengut  der Lichtenberger Frauenklinik vor. Immerhin überwogen die benignen Fälle, und über die Hälfte der Patientinnen konnte organerhaltend operiert werden.

F. Peters/Mainz stellte kenntnisreich die Normvarianten und die Pathologie der kindlichen und jugendlichen Mamma dar.  Besonders sensibel wurde die Frage von operativer Augmentation bzw. Reduktion behandelt, beides Eingriffe, die immer häufiger auch von jugendlichen Patientinnen gewünscht werden. Beim Entschluss zur operativen Korrektur muss man aber, wie F. Peters formulierte, die „Vor- und Rückwärtsgänge der Entwicklung“ berücksichtigen und überdies die Lebensdauer von Implantaten. Die Beratung ist in der Phase der Selbstfindung von überragender Bedeutung: „Es ist falsch, die eigene Identität nur an einem Organ festzumachen.“

In der Sitzung zur kinder- und jugendgynäkologischen Sprechstunde wurden praxisnahe Beiträge gebracht: Frau I. Voß- Heine, niedergelassene Frauenärztin in Werl, hat eine Teenagersprechstunde eingerichtet, zu der sich jeweils etwa 20 Mädchen einfinden. So zeitraubend es sein mag – den Mädchen wird das Gefühl vermittelt, dass sie ernstgenommen werden,  indem sie in einer entspannten Atmosphäre ihre Fragen stellen und erörtern können.

Für die kindergynäkologische Sprechstunde hat Frau I. Voß-Heine die Kooperation mit den Pädiatern in ihrem Umkreis gesucht und gefunden. In dieser Kooperation kann die Auseinandersetzung mit den besorgten Müttern bzw. Pflegepersonen im Vordergrund stehen.

Frau S.-Ch. Renteria/Lausanne sprach über Sinn und Unsinn gynäkologischer Untersuchungen bei der Jugendlichen. Sie stellte die alljährlichen Kontrolluntersuchungen bei Anwendung hormonaler Kontrazeptiva auf den Prüfstand. Bei asymptomatischen Patientinnen verzichtet sie unter Umständen auf die vaginale Untersuchung, wegen der hohen Prävalenz sexuell übertragbarer Krankheiten bei Adoleszenten (Herpes, Kondylome) nicht aber auf die Inspektion der äußeren Genitalien.

Im Hinblick auf die mögliche Entwicklung von Zervixdysplasien wurde die Wertigkeit des HPV-Nachweises diskutiert. Auf das diesbezüglich stark erhöhte Risiko für Mädchen, die sehr früh (vor dem 14. Geburtstag) sexuell aktiv werden, sowie auch auf das hohe Risiko bei HIV-Positiven wurde hingewiesen.

Dem ärztlichen Gespräch kommt bei der Betreuung von Jugendlichen besondere Bedeutung zu. Frau U. Kling-Mondon/Berlin hat in ihrer Kreuzberger Praxis einen hohen Anteil muslimischer Patientinnen, deren sozio-kultureller Hintergrund und deren religiöse und traditionelle Bindungen zu beachten sind. Die gewohnte Praxisroutine greift bei diesen  Patientinnen nicht – das ist eine Herausforderung, die weit über das Problem der sprachlichen Verständigung hinausgeht.

W. Grünberger stellte die First-Love-Ambulanz am Rudolfstift in Wien vor. Diese Einrichtung wird von den Jugendlichen sehr gut angenommen, eliminiert sie doch weitestgehend die Schwierigkeiten beim Zugang zur gynäkologischen Betreuung. Für die Mundpropaganda sorgen vor allem die Freundinnen der Betreuten und die Medien. Der Altersschwerpunkt der Ratsuchenden liegt bei 15 bis 16 Jahren, ein Viertel der Mädchen ist jünger als 14 Jahre. Im Schnitt suchen die Mädchen die Ambulanz 1,7mal auf. Die Ambulanz stellt also keine Konkurrenz, sondern eine Brücke zu den niedergelassenen Ärzten dar.

Frau Ch. Klapp berichtete über die präventive Arbeit der „Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau“ in Berlin und Umgebung: Im vertrauten Klassenverband und am gewohnten Lernort Schule können gesundheitsrelevante Themen besprochen und Vorsorgemaßnahmen nahegelegt werden, um die sich die Jugendlichen – vor allem die  schichtspezifisch weniger alerten Jugendlichen – nicht aus eigener Initiative bemühen. Der Brückenschlag zum niedergelassenen Arzt, insbesondere auch die Empfehlung der Jugendgesundheitsberatung (J1) ist ein besonderes Anliegen. – Mit einer einfachen, bildhaften Sprache und durch das Eingehen auf die alterstypischen Unsicherheiten und Besorgnisse, vor allem aber durch das Ernst- und Wichtignehmen aller Fragen erreicht man die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt.

Die Kontrazeption – auch die notfallmäßige Kontrazeption – ist ein Thema, das bei keiner Veranstaltung der Kinder- und Jugendgynäkologie fehlt. Frau D. Foth aktualisierte die Eckpunkte der Verschreibung, W. Grünberger stellte die notfallmäßige Kontrazeption praxisnah dar. Ergänzende Aspekte brachte der folgende Tagungsabschnitt: Da ging es um den weiblichen Knochen in Pubertät und Adoleszenz, um Osteoporose und postmenopausale Hormonersatztherapie (HRT). Wieder hatten die Kinderärzte  Bedeutungsvolles beizutragen: D. Schnabel/Berlin sprach über die normale und gestörte Entwicklung der Knochen.

E. Schönau/Köln referierte über die rationelle Diagnostik und die Therapie bei Knochenerkrankungen, fesselnd beschrieb er die Interaktionen zwischen Knochen  und Muskulatur. Im Vordergrund muss die Frage der Funktionsfähigkeit stehen, d.h. Dichte und Dicke der Knochen kann man zwar bestimmen, entscheidend aber ist deren Festigkeit.

Ein brisantes Thema bearbeiteten M. Hartard und Mitarbeiter an der Technischen Universität München, angeregt durch die Ergebnisse einer epidemiologischen Studie des Royal College of Practitioners, in der ein erhöhtes Frakturrisiko bei Frauen belegt wurde, die in jungen Jahren Ovulationshemmer angewandt hatten. Bei den vorgestellten Untersuchungen wurden deutliche Veränderungen hinsichtlich der kurz- und langfristigen Anpassung des Knochenstoffwechsels im Sinne eines Abfalls nahezu aller Parameter unter Anwendung einer Pille dokumentiert. Wir werden wohl noch erfahren, ob die Absenkung der Serumspiegel für FSH, Progesteron und Östradiol sowie der Abfall der Werte für die alkalische Phosphatase, für Osteokalzin und für Pyridinolin Konsequenzen hat – und wenn ja, welche.

Zum Abschluss dieser Sitzung stellte Frau M. Heinz den aktuellen Stand der Kenntnisse bezüglich der Indikationen für eine hormonelle Substitution bei jungen Mädchen übersichtlich dar.

In der letzten Sitzung befasste sich Frau  M. Schaffer/Graz mit den unterschiedlichen  Erscheinungsformen der sexuell übertragbaren Krankheiten bei kleinen und bei jungen Mädchen. Und Frau F. Navratil/Zürich erörterte den Stellenwert genito-analer Untersuchungsbefunde bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Sie beschrieb im einzelnen die Vorgehensweise bei der körperlichen Untersuchung des jungen Mädchens. Unter anderem forderte sie mit Nachdruck Augenkontakt in jeder Lage, auch in der Knie-Ellbogen-Position: Das Kind muss immer die Kontrolle über die Situation behalten können.

Die Befunde und deren Interpretation dienen bei sexuellem Missbrauch der Klärung des Falles, bedeuten aber auch eine  Hilfeleistung für das Opfer, nämlich die Wiederherstellung des Gefühls der eigenen körperlichen Integrität.

G. Papp aus Györ ergänzte das Thema durch eine Analyse der Fälle von sexuellem Missbrauch in seiner Heimatstadt in den vergangenen fünf Jahren.

Wie immer gab es zum sexuellen Missbrauch und zum Vorgehen in diesen Fällen zahlreiche Fragen. Herr Kollege B. Herrmann/Kassel machte in diesem Zusammenhang auf die Arbeit der Deutschen Gesellschaft gegen Kindesmisshandlung und -vernachlässigung aufmerksam.

Wir haben in Berlin eine inhaltsreiche Tagung erlebt, deren Organisation dank der bewährten PR-Agentur Ruttkowski reibungslos lief. Unser besonderer Dank gebührt Marlene Heinz, der kompetenten Tagungspräsidentin, die sich auch in den kritischen Momenten der schon traditionellen Intersex-Demonstration mit souveräner Gelassenheit zu behaupten wußte.

Außerdem hat sich M. Heinz – wie schon manches andere Mal – als liebenswürdige Gastgeberin erwiesen, die dafür gesorgt hat, dass wir wieder etwas Neues in Berlin kennenlernen konnten: Der neu gestaltete Zollernhof war ein charmanter Rahmen für den geselligen Abend. Zur Unterhaltung trug ein musikalisches Kabarett bei.

Der Besucher bewundert immer wieder die unerschöpfliche Fülle künstlerischen Talents in unserer Hauptstadt. Sicher haben die Teilnehmer am Berliner Symposium auch die Gelegenheit genutzt, außerhalb der Tagungsveranstaltungen von dem reichen kulturellen Angebot Gebrauch zu machen.

Berichterstatterin: Dr. med. Judith Esser Mittag,
Düsseldorf