Fort- und Weiterbildung

Abstracts des Münchener Symposiums für Kinder- und Jugendgynäkologie
Anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Arbeitsgemeinschaft vom 23. bis 25. Oktober 2003, Frauenklinik, Klinikum Großhadern, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Anneke Garst, Bremen

Discofieber und Muttersorgen: Minderjährige Mütter im Casa Luna

Jugendliche haben heutzutage einen relativ problemlosen Zugang zu den verschiedensten Verhütungsmitteln. Warum werden trotzdem jedes Jahr mehrere tausend minderjährige Mädchen in Deutschland schwanger? Die Gründe dieser Schwangerschaften liegen häufig nicht nur in dem Verzicht oder der falschen Anwendung von Verhütungsmitteln, sondern sie liegen tiefer. Sehnsüchte nach Geborgenheit und Anerkennung und Hoffnungen auf einen Neubeginn sollen durch die Schwangerschaft erfüllt werden.

Wenn sich die Mädchen gegen einen Abbruch entscheiden und junge Mütter werden, geraten sie in ein Spannungsfeld zwischen Jugendlichkeit und Erwachsensein, zwischen Verantwortlichkeit und Unabhängigkeitsstreben. Vielerlei Ansprüche werden an sie gestellt, die sie kaum erfüllen können. Auch die pädagogische Arbeit mit den jugendlichen Müttern ist eine Gratwanderung. Meine Erfahrung mit jugendlichen Müttern mache ich seit über zehn Jahren in der Einrichtung für minderjährige Mütter - Casa Luna - in Bremen. Casa Luna ist eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung für junge schwangere Mädchen und junge Mütter im Alter von 13 bis 18 Jahren. Träger ist der Verein Kriz - Bremer Zentrum für Jugend- und Erwachsenenhilfe e.V.

Casa Luna ist eine mädchenspezifische Einrichtung und arbeitet ganzheitlich. Das bedeutet, dass das Muttersein der Mädchen ebenso zu ihrer Gesamtperson gehört wie ihre Jugendlichkeit. Die Mutterrolle bringt zusätzliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung ihres Lebens mit sich, reduziert jedoch die Mädchen nicht nur auf diese Rolle.

Ziele der Einrichtung sind:

  • Die Entwicklung eines selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Lebens mit dem Kind;
  • Der Aufbau einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung;
  • Die Sicherung des Kindeswohls;
  • Die Alltagsbewältigung;
  • Die Entwicklung einer Berufs- und Lebensperspektive.

Familiäre Hintergründe

Die Biographien der jungen Mütter, die in unserer Einrichtung leben, sind von erheblichen Belastungen geprägt. Häufig spielen Faktoren wie Alkoholismus, Vernachlässigung, Erwerbslosigkeit und materielle Not, körperliche Misshandlungen der Eltern untereinander wie auch der Kinder, sexueller Missbrauch durch ein oder mehrere Mitglieder der Familie oder Trennung der Eltern eine Rolle in der Biographie der Mädchen.

Die Mädchen erleben ihre Eltern kaum als orientierende und richtungsweisende Vorbilder. Sie sind verunsichert in ihrer Identitätsfindung. Ihr Selbstwertgefühl ist häufig gering. 

Gründe der frühen Schwangerschaft

Die jungen Frauen, die in der Einrichtung wohnen, haben häufig negative Erfahrungen mit Sexualität in ihrer Kindheit machen müssen. Sie mussten erfahren, dass Sex und Gewalt eng beisammen liegen. Ihre Beziehungen sind geprägt von Orientierungs- und Haltlosigkeit. In ihrer Suche nach Geborgenheit und Liebe schaffen sie es nicht, stabile Liebesbeziehungen einzugehen. Sie suchen immer wieder die alten, ihnen bekannten Muster, in denen Sexualität mit Gewalt verknüpft ist. Alkohol und Drogen spielen hier vielfach eine Rolle. 

Umgang mit Verhütung

Wenn die Mädchen erfahren, dass sie schwanger sind, ist dies meistens erst mal ein Schock. Sie haben sich nicht bewusst für eine Schwangerschaft entschieden. Sowohl unzureichendes Wissen über die verschiedenen Möglichkeiten der Verhütung wie auch eine innere Abwehr vor der Einnahme von Verhütungsmitteln (Pille) und der Benutzung von Kondomen sind Gründe, sich auf den ungeschützten Geschlechtsverkehr einzulassen. Auch die auf die Stunde genaue regelmäßige Einnahme der Pille erfordert eine starke Disziplin und eine feste Tagesstruktur, was Mädchen in dem Alter noch nicht schaffen. Einige trauen sich nicht, den Weg zum Frauenarzt zu machen, um sich die Pille verschreiben zu lassen. Außerdem wollen viele Frauenärzte die Zustimmung der Eltern, bevor sie einer Minderjährigen die Pille verschreiben.

Mädchen, die schon früh Missbrauch erfahren haben, entwickeln oft nur eine geringe eigene Körperwahrnehmung. Die Körpertemperatur und Körpergerüche spüren sie kaum. Auch die von einer Schwangerschaft verursachten Körperveränderungen werden erst spät wahrgenommen. 

Die Entscheidung für das Kind

Die Gründe, warum die Mädchen sich für die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden, sind vielfältig. Bei allen gibt es die Hoffnung eines Neubeginns, eines neuen Lebensimpulses. Es bietet sich die Möglichkeit, den gewohnten Rahmen zu sprengen und die bisherige Lebensbedingung und -situation zu verändern. Mit der Entscheidung, das Baby zu behalten, ist häufig auch die Hoffnung verbunden, erstmals eine Beziehung eingehen zu können, die von ihnen selbst gestaltet wird und in der die Person nicht einfach wieder geht, wenn es Probleme gibt. Außerdem besteht die Hoffnung, der Wunsch und die Sehnsucht nach etwas Eigenem, nach Geborgenheit und Liebe. Auch sexualmoralische Wertvorstellungen des Mädchens spielen bei der Entscheidung für das Kind eine Rolle. Eine Abtreibung empfinden sie als „Tötung“. Manchmal haben sie sogar Ultraschallbilder des Babys gesehen und fühlen sich schon sehr früh mit dem Kind verbunden. Sie können sich nun nicht mehr für eine Abtreibung entscheiden.

Manche Mädchen verheimlichen die Schwangerschaft vor Freunden und Familie über die kritischen zwölf Wochen hinaus und noch länger. Sie haben Angst, den Fragen und vor allem dem Drängen der Familie und später des Jugendamtes nicht gewachsen zu sein und letztendlich zu einer Abtreibung gezwungen zu werden. Die Schwangerschaft kann auch die Möglichkeit bieten, sich erstmalig gegen die Eltern durchzusetzen mit einer eigenen Entscheidung, und zwar für das Kind. Nicht selten passiert dies in Konkurrenz zur eigenen Mutter. Die Schwangerschaft bietet, trotz aller Ambivalenz, gleichzeitig auch die Möglichkeit eines Neubeginns. Durch Konflikte in der Familie, Pflegefamilie oder mit dem Freund wird unter Umständen eine Schwangerschaft unbewusst herbeigewünscht. Die Hoffnung, mit dem Freund zusammenzuleben, endlich die Familie verlassen zu können und eine eigene Wohnung zu beziehen, könnte sich durch eine Schwangerschaft realisieren. Erste Gespräche mit dem Jugendamt machen diese Hoffnung meistens bald zunichte.

Außerdem bietet die Schwangerschaft bzw. die Geburt des Kindes die Chance, auf die Schule verzichten zu können. Der soziale Status in der Schule ist meistens gering. Ein Abschluss ist nicht in Sicht. Die Schwangerschaft/Mutterschaft bietet nun die Legitimation, nicht mehr zur Schule gehen zu müssen. Zusätzlich bietet die Schwangerschaft/Mutterschaft die Möglichkeit, einen von der Gesellschaft, der Familie und den Freundinnen anerkannten Status zu erwerben. Dieser Status bietet Sicherheit und Orientierung. Viele Mädchen haben schon jüngere Geschwister großgezogen und begeben sich durch die Mutterschaft in ein Arbeitsfeld und in eine Rolle, die sie kennen. Der Staat befürwortet dies und belohnt das Verhalten in Form von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld. Es kann Rücksichtnahme der gesellschaftlichen Anforderungen (z.B. Schule, Ausbildung) eingefordert und gleichzeitig Anerkennung – etwas geschafft zu haben – erworben werden. Dies bewirkt zunächst eine Aufwertung des Selbstwertgefühls.

Die Väter

Die letztendliche Entscheidung für oder gegen das Kind wird meistens von der Mutter alleine getroffen. Die Väter scheinen hierbei keine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Obwohl häufig mit der Schwangerschaft auch die Hoffnung verbunden ist, den Partner zu halten, realisiert sich dies in den wenigsten Fällen. Die Väter sind oft selber noch sehr jung und nicht bereit, sich schon so früh zu binden. Sie haben häufig eine belastende Kindheit hinter sich und sind instabile, labile Persönlichkeiten. So fehlt nicht nur die notwendige psychische und physische Unterstützung für die junge Mutter und das Kind, sondern es besteht auch die Gefahr, dass Mutter und Kind zusätzlich gefährdet werden.

Dass nun aus dem jugendlichen Spiel, in dem es noch keine konkreten Zukunftsvisionen gibt, so plötzlich bitterer Ernst geworden ist, wollen die zukünftigen Väter nicht akzeptieren. Auf die Feststellung der Schwangerschaft reagieren sie häufig mit Ablehnung. Ihre Mitverantwortung und Mitschuld an der Schwangerschaft wird von ihnen in Frage gestellt.

Aufnahme in der Mutter-Kind-Einrichtung

Die Verantwortung, ein Kind zu haben und es zu erziehen, stellt höchste Anforderungen an die jungen Mütter. Neben den psychosozialen Voraussetzungen ist es vor allem die Jugendlichkeit der Mütter, die als Anlass gesehen wird, ihnen eine Mutter-Kind-Einrichtung zu empfehlen. Die Jugendlichen haben noch keine realistische Vorstellung von der physischen und psychischen Belastung, die auf sie zukommt. 

Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung

Die Lebensphase, in der sich die jungen Mütter befinden, ist von großen Widersprüchen gekennzeichnet. Einerseits sind sie überfordert und fühlen sich massiv eingeengt in ihren Freiräumen, sind sie unsicher und wenig belastbar, fühlen sich Ansprüchen vom Kind, der Familie, den Pädagoginnen, den Freunden, den Mitbewohnerinnen ausgesetzt, andererseits hat das Kind für sie eine positive und sinnstiftende Bedeutung und gibt ihnen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Die Jugendlichkeit der Mutter stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Die junge Mutter ist selbst noch ein Kind, das betreut und versorgt werden möchte und das sich aufgrund seiner Geschichte und seiner derzeitigen Situation in einer durchaus schwierigen psychischen Verfassung befindet.

Die Bedürfnisse, Träume, die Wünsche nach Ausprobieren verschiedener Verhaltensweisen und Lebensstile, der Wunsch nach Konfrontation und Grenzsetzung sind typisch jugendliche Verhaltensweisen, die jedoch kaum vereinbar sind mit den Bedürfnissen des Kindes nach Beständigkeit, Ruhe, Zuverlässigkeit und Halt sowie Schutz.

Häufige Verhaltensmuster der jungen Mutter

Die pädagogischen Wert- und Verhaltensmaßstäbe, die die Mädchen bei der Erziehung des Kindes anstreben, orientieren sich an denen ihrer Herkunftsfamilien. Oft haben die Mädchen Mühe, das Kind körperlich nah an sich heranzulassen. Sie geben lieber die Flasche als die Brust. Dies ist unverfänglicher und schafft mehr Distanz. Sie interpretieren das Verhalten des Kindes häufig als gegen sie gerichtet. Ihr Umgang mit dem Kind schwankt zwischen Nachlässigkeit und Gewährenlassen auf der einen Seite und plötzlicher Strenge und körperlicher Disziplinierung auf der anderen Seite. Sie sind nicht in der Lage, dem Kind eine eigene Welt mit all seinen Ansprüchen und Empfindungen zu gewähren, sondern treten in Konkurrenz mit ihrem Kind um Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung. Ihr Verhalten schwankt zwischen Annäherung und Distanz.

Vor allem die sehr jungen Mädchen (13, 14) nehmen das Hilfsangebot der Betreuung und Unterstützung durch die Einrichtung gerne an. Sie sind sich bewusst, es ohne Hilfe nicht zu schaffen und können sich noch auf eine kindliche Art und Weise auf fremde Hilfe einlassen.

Wenn eine junge Mutter die Hilflosigkeit spürt, alles, was in ihrer Macht stand, getan zu haben und trotz aller Hilfe den Ansprüchen des Kindes nicht gewachsen zu sein, und sie sich entscheidet, sich von ihrem Kind zu trennen, wird sie in diesem Trennungsprozess von den Pädagoginnen intensiv begleitet. Ob die Jugendlichen es schaffen, eine positive Mutter-Kind-Beziehung aufzubauen, hängt davon ab, wie sie in der Lage sind, Hilfe anzunehmen, Widersprüche auszuhalten und welche Ressourcen sie selber mitbringen. 

Gratwanderung der pädagogischen Arbeit

Ziel der Einrichtung ist es, dass sich Mutter und Kind auf dem gemeinsamen Weg zur Selbständigkeit positiv entwickeln können und dass eine liebevolle und verantwortungsvolle Mutter-Kind-Beziehung entstehen kann. Die Sicherung des Wohls des Kindes steht dabei im Mittelpunkt. Die pädagogische Arbeit mit den jungen Müttern befindet sich in diesem Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den Bedürfnissen der Mutter. Sowohl die Bedürfnisse der Mutter nach Jugendlichkeit, Freiheit und Unbefangenheit wie auch die Bedürfnisse des Kindes nach Ruhe und Beständigkeit werden ernst- und wahrgenommen, akzeptiert, und dürfen gelebt werden. Da das Kind besonders hilflos und schutzbedürftig ist und seine Interessen noch nicht allein vertreten kann, verstehen sich die Pädagoginnen in erster Linie als Anwältin der Kinder. In Konfliktfällen zwischen den Interessen von Mutter und Kind können beide eine pädagogische „Anwältin“ auf ihrer Seite bekommen. 

Fazit:

Junge Mütter durchleben den Prozess des Erwachsenwerdens sehr rapide, sie müssen Verantwortung übernehmen, der sie noch nicht gewachsen sind. Ihr gesamter Alltag strukturiert sich um das Kind und bringt sie manchmal an den Rand ihrer Belastbarkeit. Ihr Leben ist eine Gratwanderung zwischen den eigenen Interessen und denen des Kindes. Ohne Hilfe sind sie kaum in der Lage, das Leben mit dem Kind zu schaffen. In einer Mutter-Kind-Einrichtung können sie - gemeinsam mit anderen Müttern - lernen, ihr Leben mit dem Kind zu bewältigen. Dabei ist die pädagogische Arbeit ebenfalls eine Gratwanderung zwischen dem Wohl des Kindes und den Interessen der Jugendlichen.

Anneke Garst, Casa Luna-Kriz e.V., Bremen