Fachwissen

Kommentar

Kinder- und Jugendgynäkologie: Konkurrenz für psychosoziale Fachkräfte?

aus korasion Nr. 3, September 2000

In dem Buch “Weiblichkeit ist keine Krankheit” (Hrsg. Petra Kolip) hat die Diplom-Sozialwissenschaftlerin Bettina Schmidt, Bielefeld, das Kapitel “Mädchen als neue Klientel/Die Medikalisierung der Pubertät durch die Mädchengynäkologie” verfasst

Wesentlicher Inhalt dieser Abhandlung sind Vorwürfe gegenüber Kinder- und Jugendgynäkologen, von der Autorin Mädchengynäkologlnnen genannt, weil diese “medizinfremde Leistungen in das Angebot aufnehmen” (S. 56), die “von speziell qualifizierten psychosozialen Fachkräften geleistet werden” sollten (S. 57) (gemeint sind “Pädagoglnnen, Sozialarbeiterlnnen, ErzieherInnen, SozialpädagogInnen und PsychologInnen”).

Im einzelnen wirft die Autorin den in der Kinder- und Jugendgynäkologie tätigen FrauenärztInnen vor, dass

  • die “mädchengynäkologische Sprechstunde” ... “die Selbstwahrnehmung und Selbstbestimmung der Mädchen beschränkt und die Abhängigkeit vom medizinischen System erhöht ...” (S. 38);Zyklusstörungen und Brustentwicklungsvarianten unnötig pathologisiert werden (S. 42-48);
  • “vor allem für die Zielgruppe der jungen Mädchen ausschließlich die Pille als adäquate Methode zur Empfängnisverhütung erachtet” wird (S. 49) – bei “gleichzeitiger Vernachlässigung der übrigen Kontrazeptiva” (S. 52);
  • “die weibliche Entwicklung, der weibliche Zyklus und der weibliche körperliche Reifungsprozess ... normiert, bestimmte Abweichungen von der Norm pathologisiert und mit Hilfe medizinischer Maßnahmen reguliert” werden (S. 52);
  • “die Aufgaben der Kindergynäkologlnnen weit über die der Medizin hinausgehen” (S. 53) (gemeint sind damit Beratungen zu Hygienemethoden, Empfängnisverhütung, Sterilitätsprophylaxe, Partnerschafts- und Sexualitätsprobleme, Sexualpraktiken und deren Risiken u.v.a.m.).

Erstaunlicherweise hat die Diplom-Sozialwissenschaftlerin Dr. PH Bettina Schmidt trotz “gründlicher Betrachtung mädchengynäkologischer Fachliteratur” (S. 55; wir zählten 37 Literaturzitate zum Thema) das Anliegen der Kinder- und Jugendgynäkologie und auch die Sorgen und Ängste von Müttern und deren Mädchen so ganz und gar nicht verstanden, wenn sie in ihrem Resümee (S. 55) schließlich feststellt, dass “die Bestrebungen der weiträumigen Implementierung mädchengynäkologischer Einrichtungen ... scheinbar insbesondere darauf ausgerichtet” sind, “Reife-Variationen zu pathologisieren und somit einen neuen Markt an Maßnahmen der Prävention und Kuration zu erschließen, sowie außerdem darauf angelegt sind”, “medizinfremde Leistungen in das Angebot aufzunehmen”.

Die Ausführungen von Frau Schmidt ähneln in frappierender Weise der Dokumentation der Frauenärztin Dr. med. Mura Kastendieck aus dem Jahre 1995. Auch bei ihr ging es um die angebliche Schaffung neuer Pfründe durch die Kinder- und Jugendgynäkologie (Normierung, Pathologisierung von Entwicklungsvarianten, Schwangerschaftsverhütung, Sexualpraktiken etc.). Der Kommentar dazu aus 1996 (korasion 2/96) mit Anmerkungen zu Inhalten und Zielsetzungen der Kinder- und Jugendgynäkologie gilt auch heute unverändert und sei deshalb partiell nochmals wiedergegeben:

1. Diagnostik und Therapie bei Erkrankungen:

Die weiblichen Geschlechtsorgane können tatsächlich auch im Kindes- und Jugendalter erkranken. Zudem werden Mädchen keineswegs selten durch subjektive Symptome beunruhigt: Fluor, Menstruationsbeschwerden oder -störungen, unklare Unterbauchschmerzen u. a. Auch derartige Symptome müssen ursächlich geklärt und gegebenenfalls therapeutisch angegangen werden.

Neben diesen Symptomen gibt es Störungen, die zunächst keine Beschwerden verursachen müssen: Ausbleibende Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale, ausbleibende Menarche zum erwarteten Termin u.a. Die Ursachen können organische und behandlungsbedürftige Erkrankungen wie Gonadendysgenesie, anatomische Fehlbildungen, Intersexualität u.a. sein.

2. Prävention:

In erster Linie anzusprechen ist die Schwangerschaftsverhütung mit geeigneten Mitteln. In diesem Bereich geht es jedoch nicht darum, “einfach” die Pille zu verschreiben, weil das weniger zeitaufwendig ist, als die “Anwendung eines Diaphragmas zu erklären”. Es geht viel mehr um eine sichere und akzeptierte Kontrazeption, um unerwünschte Schwangerschaften bei Teenagern zu vermeiden und die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren. Und in dieser Zielsetzung ist die Pille zur Zeit immer noch das sicherste und am besten akzeptierte Verhütungsmittel bei den Mädchen, sofern die Mädchen altersentsprechend und objektiv beraten und die wenigen Kontraindikationen beachtet werden. Die damit assoziierte Orientierung auf Heterosexualität schließt die Wahrnehmung anderer, z.B. “lesbischer Lebensformen” nicht aus. Aber zur Schwangerschaftsverhütung kann man doch wohl kaum die “lesbische Lebensform” empfehlen, wenn das Mädchen heterosexuell orientiert ist.

Wichtig ist ferner die rechtzeitige Diagnose von Infektionen mit STD-Erregern, auch z. B. bei Verdacht auf Sexualdelikte, um jeweilig eine tubare Sterilität zu vermeiden.

Ein weiteres Feld ist die altersgerechte und individuelle Beratung in Fragen der Menstruations- und Sexualhygiene. Die Unkenntnis und das Informationsbedürfnis der Mädchen in diesem Bereich sind groß!

Vorsorgeuntersuchungen in Präpubertät und Pubertät: Sie sind bei regelrechter körperlicher Entwicklung ohne Beschwerden nicht notwendig, sofern der betreuende Kinderarzt bei seinen körperlichen Untersuchungen auch das Genitale anschaut.  

“Normabweichungen” werden nicht von Ärzten gemacht. Vielmehr werden sie den Mädchen und deren Eltern durch die Medien mit Fotos und Beschreibungen von Schönheitsidealen eingeredet. Und sog. Normwerte zur altersgemäßen Größe der Organe des inneren Genitale machen medizinisch schon einen Sinn, um echte Pathologie bei der Ultraschalluntersuchung rechtzeitig zu erkennen.

Ist es nicht das gute Recht eines Mädchens (bzw. dessen Eltern), einen kompetenten Arzt zu fragen, ob es “normal” sei, d.h. seine Entwicklung regelrecht verläuft? Durch sachgerechte Untersuchung und Beratung werden Ängste abgebaut und nicht etwa “auf diese Art die Abhängigkeit von der Medizin gefördert”. Auch wird nicht “die Übernahme von Eigenverantwortlichkeit bei Mädchen und Frauen” eingeschränkt.

3. Nachsorge:

Begleitende somatische Untersuchungen und die psychologische Führung nach Operationen (wegen Fehlbildungen des Genitale, Tumorbildungen u. a.) sind weitere wichtige Aufgaben.

Fazit:

Anliegen der Kinder- und Jugendgynäkologie ist es nicht, “jedes Mädchen in der Frauenarztpraxis zu untersuchen”.

Kinder- und jugendgynäkologisch tätige Ärzte müssen über subtile Kenntnisse der anatomischen Besonderheiten des weiblichen Genitale von Kindern bzw. Jugendlichen verfügen, deren Endokrinologie kennen und altersentsprechend psychologisch beraten können.

Die Unterscheidung zwischen Normvarianten und echter Pathologie ist notwendig, um kein Mädchen unnötig krank zu machen. Das hat nichts mit Normierung zu tun!  

Die Kinder- und Jugendgynäkologie ist ein interdisziplinäres Fach: (Kinder-)Gynäkologen, Pädiater, (Kinder-)Psychologen sowie (Kinder-)Urologen, (Kinder-)Chirurgen und andere müssen im Interesse der kleinen und heranwachsenden Mädchen eng zusammenarbeiten.

Berlin, den 30.08.2000
Dr. med. Marlene Heinz