Fachwissen

Prävention – eine genuine ärztliche Aufgabe in der Kinder- und Jugendgynäkologie

Christine Klapp

aus korasion Nr. 2, Mai 2001

Zehn „Goldene Regeln“ bei Gesprächen mit Jugendlichen

  1. Intensiv zuhören;
  2. Die Frage hinter der Frage erspüren;
  3. Fragen zurückgeben (direkte Antworten beenden jedes Gespräch);
  4. Die „Show“ niemals direkt unterlaufen;
  5. Körperkonzept erklären, Zusammenhänge mit persönlich Erfahrbarem aufzeigen;
  6. Die große Variabilität der Norm erklären;
  7. Ermuntern, den eigenen Gefühlen zu trauen;
  8. Schamgefühle als eine spezifisch menschliche Schutzfunktion respektieren;
  9. Von beunruhigenden Phantasien entlasten;
  10. Verzerrende Vorannahmen behutsam korrigieren (nicht besserwisserisch agieren).

Als Ärzte, als Eltern müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Kinder und Jugendliche auch vielfältigen negativen Einflüssen ausgesetzt sind, deren Auswirkungen wir nur sehr bedingt gegensteuern können. Es kann uns aber nicht kaltlassen, wenn:

  • die Aufnahme sexueller Beziehungen bei 7 bis 10 % der Jugendlichen bereits im Alter unter 14 Jahren stattfindet;
  • die Rate an Schwangerschaftsabbrüchen bei den Minderjährigen im Jahre 1999 um 3 % zugenommen hat, wohingegen sie bei den 25- bis 30jährigen zurückging;

Zahl der Abruptiones, 1999
Anstieg bei den Minderjährigen: 3 %
Rückgang bei den 25 - 30jährigen: 6 %

  • die Jugendgesundheitsberatung (J1) bisher nur von einer Minderheit der berechtigten 12- bis 13jährigen in Anspruch genommen wird;
  • ein Drittel der 15jährigen Mädchen raucht, wohingegen es bei den gleichaltrigen Jungen nur ein Viertel ist;
  • die Inzidenz von Chlamydien-Infektionen bei den 20- bis 24jährigen Frauen und bei den sexuell aktiven Teenagern am höchsten ist;
  • die Essstörungen zunehmen (die Anorexie betrifft 1 %, die Bulimie 1 bis 5 % und die Adipositas 5 % aller heranwachsenden Mädchen);
  • sich eine allgemeine Impfmüdigkeit ausbreitet, etc.

Sexualität – ein archaisches Grundbedürfnis des Menschen
Informationsbedürfnisse von Frauen und Mädchen zufriedenzustellen, ist die natürlichste Aufgabe des Beratungspartners Frauenheilkunde.
G. Kindermann, DGGG, 2000

Auf diesen Feldern sind alle medizinischen Disziplinen aufgerufen, ihren präventiven Beitrag zu leisten, insbesondere  auch die Kinder- und Jugendgynäkologie. Die langjährigen Erfahrungen der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau (ÄGGF) mit Jugendlichen und deren Motivierbarkeit sind ermutigend. Auch hat sich erwiesen, dass der kinder- und jugendgynäkologischen Sprechstunde aufgrund ihrer besonderen Aufgabenstellung eine Schlüsselfunktion  zukommt.

Aber das große Wachstumspotential der Frauenheilkunde sehe ich in der anderen Dimension des Faches, in der Umsorgung der gesunden Mädchen und Frauen mit ihren vielfältigen
Lebensbedürfnissen.
G. Kindermann, DGGG, 2000

Befragungsergebnisse belegen, dass der Arzt in der Einschätzung Jugendlicher als der am besten akzeptierte Vermittler präventiver Botschaften gilt. Anlässlich des Kongresses 2000 der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe  hob denn auch Prof. G. Kindermann in der Eröffnungsrede als Zukunftsaufgabe der Frauenheilkunde die „Umsorgung der gesunden Mädchen und Frauen mit ihren vielfältigen Lebensbedürfnissen“ hervor und nannte es „die natürlichste Aufgabe des Beratungspartners Frauenheilkunde, den Informationsbedarf von Frauen und Mädchen zu Fragen der Sexualität zufriedenzustellen“.

Strategien zur Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen müssen, wenn sie die Zielgruppe erreichen sollen, sozusagen mitten ins Herz, ihren Nerv oder – wie der Berliner sagt – „den Nagel uffn Fuß“ treffen. Themen wie  Raucherprävention, gesunde Ernährung und Impfen erfüllen diese Bedingung nicht per se. Wir haben aber in der Kinder- und Jugendgynäkologie ein treffsicheres Thema zur Hand, das alle angeht und interessiert: die sexuelle Entwicklung – deren normaler Ablauf, deren Störungen und deren psychische Implikationen. Im Zentrum der pubertären Entwicklung steht die Aneignung weiblicher Körperlichkeit und Sexualität und die damit verbundene Konflikthaftigkeit.

Die Pubertät ist eine Periode schneller und dramatischer Veränderungen.
Sie ist einzigartig, indem sie biologische und soziale Veränderungen in höchstem Ausmaß kombiniert.

Die pubertäre Entwicklung löst auch unbewusste Phantasien, Wünsche und Ängste aus. Mit den immanenten Aufbruchstendenzen  und Autonomiebestrebungen sind Chancen und Risiken verbunden. Es ist speziell für Mädchen eine Zeit, in der sie in Gefahr sind, ihr Selbstbewusstsein, ihre Aktivität und ihre Orientierung nach außen zu verlieren (Gilligan, 1995). Eine unserer ÄGGF-Kolleginnen kam unabhängig zu ähnlichen Befunden bei einer Befragung von über 1 300 Mädchen (Gille, 1995). Zur – mehr oder weniger gelungenen – Kompensation gehört dann bei manchen Mädchen das  Sich-Absetzen von Erziehungsvorgaben und eine gewisse Lust zum Risiko. In unsere zentralen Themen wie  „Pubertätsentwicklung“, „Fruchtbarkeit“, „Schwangerschaft“, „Verhütung“ und „sexuell übertragbare Erkrankungen“ eingepackt, werden andere, thematisch assoziierte Botschaften gut transportierbar. Das ist die Erfahrung aus vielen Jahren präventiver Arbeit. Sie gründet sich auf seit mehr als zehn Jahren praktizierte, aufsuchende, entwicklungsbegleitende Prävention bei Schülerinnen und Schülern in Berlin und im nahen Umland.

Wir suchen die Jugendlichen da auf, wo sie gerade stehen: im vertrauten Klassenraum und auf ihrer individuellen Entwicklungsstufe mit ihren Unsicherheiten und Ängsten. Die ÄGGF e.V., unser „Mutterhaus“, kann auf fast 50 Jahre kontinuierlicher Arbeit in Schulen zurückblicken. Bundesweit wurden z.B. im vergangenen Jahr im Rahmen von 2 027 Veranstaltungen über 41 000 Jugendliche erreicht. Die ÄGGF steht unter der Schirmherrschaft der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Überdies sind alle Mitglieder der Gesellschaft in der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendgynäkologie. 1999 ist unsere Arbeit mit dem Helmut-Stickl-Impfpreis ausgezeichnet worden.

Wir möchten unsere Erfahrungen mit der Ansprechbarkeit von Kindern und Jugendlichen weitergeben und zur Nachahmung ermutigen. Denn optimale Ergebnisse sind vor allem dann zu erwarten, wenn die o.g. gesundheitsrelevanten Themen Hand in Hand auch von niedergelassenen, kinder- und jugendgynäkologisch engagierten Kolleginnen und Kollegen aufgegriffen werden.

Die Fragen der Jugendlichen sind vielfältig und meist einfach zu beantworten:

Ab welchem Alter treibt man normalerweise Sexualverkehr?

Bekommt man die Tage nur in der Pubertät? Ab wann sollte man Geschlechtsverkehr machen? Von älteren Jugendlichen wird z.B. aber auch gefragt: Wie steckt man sich mit AIDS an? Wie sicher sind Pille und Kondom? Ist es normal, wenn die Regel mal wegbleibt? Kann man von Petting, von Badewasser schwanger werden? Bei diesen und ähnlichen Fragen bieten sich eine Fülle von Anknüpfungspunkten zu präventiven Themen, auf die man auch in der Sprechstunde eingehen sollte.

In vielen Fragen treten aber auch viele Fehlmeinungen zutage, die ernstgenommen werden müssen. Die folgende Bemerkung erscheint auf den ersten Blick lustig und harmlos: „Mädchen kriegen die Tage ... und Jungen den Orgasmus.“ Sie lässt die Frage hinter der Aussage erahnen: 36 % der Mädchen sind vor der Pubertät und nach der Menarche sogar 63 % der Meinung, dass Jungen es besser haben. Diesbezüglich zeigt sich eine Resignation, die sich oft in Passivität, Selbstmitleid,  Erwartung von Nachteilen und Schmerzen fortsetzt – keine guten Voraussetzungen, um sich im eigenen Körper wohl zu fühlen, ihn als schützenswert zu erleben und diesen Schutz auch von anderen einzufordern. Aber gerade das wäre eine gute Basis für das Gelingen eines gesundheitsfördernden Lebensstils.

Präventionsthemen in der Beratung

  • Lebensführung
    (Nicht-Rauchen, (Genital)hygiene, Bewegung, Essstörungen)
  • Impfungen
    (MMR, Hepatitis B)
  • Sexualität
    (Sex, Selbstbestimmung, Verhütung von ungewollter Gravidität und STD)
  • Selbstakzeptanz
    (Den eigenen Körper verstehen, annehmen und als schützenswert befinden)

Ein grundlegendes präventives Thema stellt die Hygiene dar: Pubertierende Kinder nehmen Hinweise zur allgemeinen Körperhygiene und zur Genitalhygiene von Ärzten bereitwillig an, vermutlich eher als von Eltern oder Lehrern. Bei jüngeren Kindern lohnt es sich, die oft falschen Vorstellungen der begleitenden Eltern zu erfragen und Hinweise zu geben.

Die Vorstellungen reichen von fünfmal Waschen am Tag bis zu einmal Waschen in der Woche, von der Scheidenspülung bis zu der Idee, beim Duschen liefe das Wasser von allein da entlang, wo es gebraucht  wird.

Bei entzündlichen Veränderungen im Genitalbereich bietet sich immer an, auch über eine gründliche Hygiene zu instruieren. Auch sollten Informationen zu sexuell übertragbaren Krankheiten und deren möglicherweise schwacher Symptomatik (wie z.B. bei Chlamydien) vermittelt werden.

Immer wieder geht es aber um das Normale, z.B. um die Abgrenzung des physiologischen Fluors gegenüber entzündlichen  Erscheinungen und deren Symptomatik. Die differenten Symptome sind von Laien nicht leicht zu verstehen, können aber im Zusammenhang erörtert werden, um die Sorge zu zerstreuen, dass es sich beim Weißfluss womöglich um eine Erkrankung handelt. Die hohe Akzeptanz ärztlicher Ratschläge auch zu so einem, scheinbar trockenen Thema zeigt sich für uns, wenn wir nach zwei bis drei Jahren wieder in die seinerzeit informierten Klassen gehen und feststellen können, dass noch erstaunlich viel zur Hygiene erinnert wird.

Lebhaftes Interesse kommt auf, wenn die neu erworbene Potenz „Fruchtbarkeit“, die Mädchen mit der ersten Regel zuwächst und die es zu schützen gilt, nicht nur mit der wichtigen Aufgabe suffizienter Verhütung verknüpft wird, sondern auch mit Stolz, Erwartung und Verantwortungsgefühl für spätere Kinder. In diesem Zusammenhang lassen sich Röteln und Mumps mit ihren möglichen Folgen und deren Vermeidbarkeit gut und einfach erklären. Es wird auch gern angenommen, wenn Gefahren positiv in die Chance umformuliert werden, aktuell schon etwas tun zu können, damit man später gesunde Kinder bekommt. Bei Jugendlichen im zweiten Lebensjahrzehnt sollte man immer nachfragen, ob geimpft wurde, bzw. sehr konkrete Empfehlungen abgeben oder nach Möglichkeit in der Praxis gleich selber impfen. Fast alle Schüler, denen wir kurz und einfach die Grundzüge von Immunität und Impfung erklärt haben, wollen mit ihren Eltern sprechen, sich impfen lassen und an der  gleichzeitig empfohlenen J1 teilnehmen. Wir stellen immer wieder fest, dass weder Eltern noch Lehrer über dieses jugendärztliche Angebot informiert sind. In solchen Fällen können wir in den Schulen bzw. die Kolleginnen/Kollegen in der Praxis helfen, eine wichtige Versorgungslücke zu schließen.

Das Prinzip „Impfung“ ist den meisten Jugendlichen unklar, d.h. es wird weit überwiegend als Medikament identifiziert.  Auch viele Erwachsene wissen nicht, dass es eben keine wirksamen Medikamente gegen die meisten Virusinfektionen gibt. Unsere Schüler verfolgen fasziniert die Veranschaulichung von Immunität und Antikörperbildung.

Unter anderem werden die – in Abgrenzung zur HIV-Infektion – relativ großen Gefahren, die mit der Hepatitis B verbunden sind (z.B. sexuelle Übertragbarkeit, auch durch Küssen, allgemein 100fach höheres Ansteckungsrisiko), deren Symptomatik, aber auch die Modalitäten der Schutzimpfung gegen Hepatitis B eifrig erfragt und notiert. Von der Regel kommt man zur Menstruationshygiene – ein vordringliches Thema für die perimenarchealen Mädchen, die sich mit der neuen Befindlichkeit erst noch zurechtfinden müssen. Informationen hierzu und vor allem zur Tamponverwendung geben ein Stück Souveränität zurück. Bedauerlicherweise wird jedoch von manchen Frauenärzten der Rat gegeben, mit der Tamponverwendung bis zum ersten Geschlechtsverkehr zu warten. Da werden Chancen verpasst, den Mädchen zu einem unbefangenen Umgang mit der Regel zu verhelfen, was so manchen Regelbeschwerden vorbeugen könnte.

Das Thema „Regel“ führt weiter zur Fähigkeit, schwanger werden zu können. Oft werden wir gefragt, ab wann man schwanger werden könne, und wir erfahren die Überzeugung, dass dies sicher nicht beim ersten Geschlechtsverkehr geschehen kann. Da gilt es, Fehlmeinungen geradezurücken.

Man kann Mädchen, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatten, darin bestärken, dass man sich mit dem ersten Mal ruhig Zeit lassen darf. Gleichzeitig aber sollte erwähnt werden, dass – wenn es nun doch sein sollte – eine sichere Verhütung  unerlässlich ist und dass wir dann diesbezüglich ansprechbar sind. Auch müssen die Mädchen wissen, dass wir da sind, wenn Verhütung einmal vergessen wurde oder nicht funktioniert hat, dass dann die postkoitale Verhütung zur Verfügung steht, sowie auch, dass wir Beratung und Begleitung anbieten, wenn es zu einer ungewollten Schwangerschaft gekommen ist. Damit Scham und Verzweiflung nicht zu Verdrängung oder gar Schlimmerem führen, können wir aufzeigen: „Es gibt immer einen Weg.“

Beim Thema „Pille“ liegt es nahe, über das Rauchen zu sprechen und dabei neben den Herz-Kreislauf-Problemen auch die  nachteiligen Folgen speziell für Frauen – Hautalterung, Schwangerschaftsprobleme, vorzeitiges Klimakterium, Osteoporose  etc. – aufzugreifen. Nicht selten fragen uns Mädchen auch nach der „Pille zum Abnehmen“. Es bietet sich dann an, über das Körpergewicht und die subjektiven Vorstellungen von der eigenen Figur zu sprechen.

Wissen über diese Dinge – ohne erhobenen Zeigefinger vermittelt – macht nicht angst, sondern hilft bei der Situationskontrolle. Indem man der Unsicherheit der Jugendlichen in Fragen zu Sexualität und Gesundheit ein Stück Orientierung entgegensetzt, stärkt man ihre Handlungskompetenz. Wir wollen Wissen vermitteln, das im Ernstfall abgerufen und in Verhalten umgesetzt werden kann (Tabelle).

Die Ärztinnen der ÄGGF verstehen ihre Aufgabe in den Schulen als Primärprävention vor Ort. Hierbei werden insbesondere  auch die Jugendlichen erreicht und unter anderem von der Notwendigkeit wichtiger Impfungen überzeugt, die den üblichen gesundheitserzieherischen Appellen gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstehen und nicht von sich aus einen Arzt aufsuchen würden. Unser Ansatz orientiert sich somit an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen und wird deshalb dankbar angenommen, so dass meist Fortsetzungsstunden gewünscht werden. Hierdurch wird die Hemmschwelle gegenüber dem Aufsuchen eines niedergelassenen Arztes deutlich herabgesetzt.

In diesem Jahr wollen wir die positive Rückmeldung anhand einer Evaluation in drei Städten des Bundesgebietes objektivieren. In Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institut (Berlin) versuchen wir, den Wissenszuwachs betreffend Prävention zu messen, den unsere Veranstaltungen bewirken.

Verfasserin:

Dr. med. Christine Klapp
Berlin