Fachwissen | korasion

Induktion der Pubertät:

Die Substitutionstherapie mit Östrogenen ist “Off-label-use”

Helmuth-Günther Dörr

aus korasion Nr. 1, März 2005

Bei einem nachgewiesenen, hypo- oder hypergonatropen Hypogonadismus infolge ausgebliebener Pubertätsentwicklung muss die Östrogensubstitution in physiologisch adäquaten Dosierungen erfolgen und zum richtigen Zeitpunkt begonnen werden. Dieses Statement findet sich in jedem Lehrbuch für Kinderheilkunde und Jugendmedizin sowie auch in jedem Lehrbuch für Gynäkologie und Endokrinologie und unterstreicht die seit Jahrzehnten gängige Praxis der Hormonsubstitution bei einem Hormonmangelzustand.
Zur Induktion der Pubertätsentwicklung werden derzeit konjugierte Östrogene (z.B. Presomen®) oder Östradiolvalerat in den entsprechenden Dosierungen empfohlen.

Im nachfolgend beschriebenen Fall wurden konjugierte Östrogene (täglich eine Tablette Presomen® 0,6mg peroral) rezeptiert, um bei einem fast 17-jährigen Mädchen die Pubertätsentwicklung einzuleiten und adäquat fortzuführen. Die Jugendliche war bis dahin wegen einer partiellen Hypophysenvorderlappen-Insuffizienz bei Empty-Sella-Syndrom mit Wachstumshormon (STH) behandelt worden. Aktuelle Befunde: Körperhöhe 155 cm; Gewicht 46 kg; Tanner B2, PH3; inneres Genitale infantil; Laborwerte: Serum-Östradiol <5pg/ml; GnRH-Test und GnRH-Agonisten-Test: kein Anstieg von LH und FSH. Es lag somit – bei primärer Amenorrhoe – ein hypogonadotroper Hypogonadismus vor – und dementsprechend sollte die Pubertätsentwicklung induziert werden.

Sachbearbeiter der örtlichen Zweigstelle der Krankenkasse monierten jedoch, Presomen ® sei nicht zur Induktion der Pubertätsentwicklung zugelassen. Daraufhin wurde die Verwaltungsmaschinerie der Krankenkasse bis hin zur zentralen Ebene in Gang gesetzt. Schließlich war man bereit, den Vorgang dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen vorzulegen, und bat den behandelnden Arzt, einen schriftlichen Antrag auf Übernahme der Kosten für das Medikament zu stellen (Schreiben vom 17.01.2005 mit vorfrankiertem Rückumschlag).

Als zugelassene Indikationen für die Anwendung von Presomen® sind in der Roten Liste angeführt: „Hormonersatztherapie zur Behandlung von Symptomen aufgrund eines Estrogendefizits bei Frauen in der Peri- u. Postmenopause. Rückbildungserscheinungen der Harn- u. Geschlechtsorgane. Prophylaxe einer estrogenmangelbedingten Osteoporose bei Frauen in u. nach den Wechseljahren u./o. mit einem erhöhten Risiko für estrogenmangelbedingte Knochenbrüche. Alleinige Anw. (ohne regelmäßigen Gestagen-Zusatz) nur bei hysterektomierten Frauen.“

Die Krankenkasse hat somit Recht. Indikationen wie „Induktion der Pubertät“ sowie „Behandlung von Hormonmangelzuständen aufgrund eines Östrogendefizits bei Mädchen und jungen Frauen“ sind offiziell nicht zugelassen. Dieses Dilemma ist aber seit vielen Jahren bekannt und die Verordnung von Östrogenpräparaten zur Off-label-Anwendung daher bisher als gängige Praxis zwischen den Beteiligten stillschweigend akzeptiert worden, da es keine Alternativen gibt. Eine Erweiterung der Indikationen für Östrogene kommt anscheinend für das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinalprodukte (BfArM) bzw. die pharmazeutische Industrie derzeit nicht in Frage.

Nun scheint sich diese Praxis der Akzeptanz zu ändern. Die Krankenkassen – einem enormen Kostendruck ausgesetzt – müssen sparen. Dies ist unbestritten. Und das heißt auch, dass bei der Verordnung eines Medikaments die zugelassenen Indikationen überprüft und eingehalten werden müssen. Wenn man allerdings auch Medikamente hinterfragt, die seit vielen Jahren im Sinne des Off-label-use nur bei einer bestimmten Gruppe und nur unter sehr eng gestellter Indikation eingesetzt werden, werden die Kosten nicht sinken, sondern infolge Zunahme des Verwaltungsaufwands (z.B. Schriftwechsel zwischen Sachbearbeitern, Ärzten und Medizinischem Dienst) zunehmen. Man könnte also Kosten sparen, wenn man solche Anfragen im Vorfeld verhindert. Dazu wäre es notwendig, dass sich die Krankenkassen vorab entsprechend fachkompetent beraten lassen, um die Medikamente zu identifizieren, die zwar unter „Off-label-use“ fallen, notwendigerweise aber seit Jahrzehnten zur Therapie unter bestimmten, begrenzten Indikationen eingesetzt werden, da es keine Alternativen gibt.

Dies betrifft u.a. alle Östrogenpräparate, die zur Pubertätsinduktion bei Mädchen mit Hypogonadismus eingesetzt werden: Bereits im Februar 1992 wurde anlässlich des 1. Berliner Symposiums für Kinder- und Jugendgynäkologie durch kompetente Frauen- und Kinderärzte ein Konsensuspapier zur Anwendung von Östrogenen bei Östrogenmangelzuständen von Mädchen bzw. jungen Frauen erarbeitet (korasion 2/1992 in gyne 5/1992).

Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Krankenkassen die Notwendigkeit einer Pubertätsinduktion bei hypogonadotropen Mädchen ernsthaft hinterfragen wollen.

Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Helmuth-Günther Dörr
Universitäts-Kinderklinik
Loschgestraße 15
91054 Erlangen
E-Mail: helmuth-guenther.doerr@noSpam.uk-erlangen.de