Fachwissen

Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH):

Ist stets eine operative Therapie gerechtfertigt?

Marlene Heinz

aus korasion Nr. 1, März 2005

Beim MRKH-Syndrom, charakterisiert durch das angeborene Fehlen von Vagina und Uterus bei regelrecht funktionierenden Ovarien und unauffälligem äußeren Genitale, ist medizinisch nicht unbedingt die Bildung einer Neovagina notwendig. Aber die Mädchen benötigen dringend kompetenten ärztlichen Rat darüber, welche Möglichkeiten es gibt, damit sie ein „normales“ Sexualleben führen können, wenn sie es wünschen.
Die empfohlenen Methoden müssen von den Mädchen akzeptiert werden und von den Ärzten professionell – unter ernsthafter Berücksichtigung der psychologischen Probleme der Betroffenen – beherrscht werden. Die Ergebnisse einer jeglichen Therapie werden sonst unbefriedigend sein. Unter 5000 weiblichen Lebendgeborenen soll das MRKH-Syndrom einmal auftreten. Es ist häufig vergesellschaftet mit Nierenanomalien wie einseitiger Nierenagenesie, ektopischer Niere, Hufeisenniere u.a. Auch Skelettanomalien, so angeborenes Fehlen oder angeborene Fusion von Wirbelkörpern sind zu berücksichtigen.

Therapeutische Möglichkeiten bei Vaginalaplasie

Ziel der Behandlung ist, den Mädchen eine Scheide zu bilden, die ihnen möglichst problemlos Sexualverkehr mit einem Partner erlaubt. Dazu werden sowohl nicht-chirurgische als auch chirurgische Methoden genutzt. Für alle Methoden ist Voraussetzung, dass das Mädchen die notwendige emotionale Reife hat und im Hinblick auf sexuelle Aktivitäten motiviert ist: Das kann bereits für eine 16-Jährige zutreffen und womöglich bei einer 25-Jährigen noch nicht der Fall sein.

Keinesfalls sollte eine Neovagina bereits im Kindesalter angelegt werden. Nicht-chirurgische Techniken (Tab. 1): Erfahrene Gynäkologen berichteten bereits in früheren Zeiten, dass Patientinnen mit MRKH-Syndrom in ihre Praxis kamen und die Untersuchung eine normal weite und lange, blind endende Scheide ergab, die ohne Therapie „lediglich“ durch regelmäßigen Geschlechtsverkehr entstanden war.

Tab. 1: Nicht-chirurgische Methoden bei Vaginalaplasie
Frank’sche Dehnung Originalmethode (1938):
Kräftige Dehnung der rudimentären Vagina durch ansteigend längere und stärkere Glasdilatatoren für sechs bis zwölf Wochen, dreimal 20 Minuten täglich;
Modifikationen:
Benutzung von Plastikprothesen für 20 Minuten täglich, Benutzung des eigenen Fingers, mehrmals täglich für ca. 5 Minuten
Geschlechtsverkehr ist zu jedem Zeitpunkt möglich und empfohlen

Diese allmähliche Dilatation einer rudimentären Scheide bei Vaginalaplasie „auf natürlichem Weg“ ist die Basis der Frank’schen, nicht-operativen Methode, die bereits 1938 – speziell zur Anwendung bei MRKH-Patientinnen – beschrieben wurde: Im Prinzip soll durch mehrmalige tägliche Dehnung der rudimentären Vagina mit ansteigend dickeren und längeren Vaginaldilatatoren eine funktionsfähige Neovagina entstehen.

Der Erfolg der mechanischen Dehnung ist abhängig davon, dass zumindest ein kleiner Vaginalrezessus vorhanden ist und das Mädchen motiviert ist, die konservative Methode zu versuchen. Je früher mit dem Geschlechtsverkehr begonnen wird, umso kürzer ist die Zeit der „natürlichen“ Dehnung.

Tab. 2: Gebräuchlichste chirurgische Methoden bei Vaginalaplasie

Epidermisscheide* Kirschner, Wagner (1930)
McIndoe, Bannister (1938)
Prothesenscheide* Wharton (1938)
Vulvovaginoplastik* Williams (1964)
Darmscheide Albrecht (1904), Schmid (1956)
Peritonealscheide* Stöckel (1912), Bloch (1961)
Davydow (1969)
Vecchietti-Neovagina (1970)

*Langzeitige postoperative Dilatation erforderlich

Beschrieben sind mehr als 100 Modifikationen der verschiedenen operativen Methoden zur Bildung einer Neovagina. Diese Vielfalt der Variationen zeigt, dass es ein optimales operatives Verfahren bis heute offensichtlich nicht gibt. Es ist das Ziel bei allen diesen Methoden, einen Raum zwischen Harnblase und Rektum zu bilden, der postoperativ nicht wieder verklebt und zu einer funktionsfähigen Neovagina führt. Fast alle chirurgischen Verfahren, ausgenommen die Darmscheide und in vielen Fällen auch die Vecchietti-Scheide, erfordern – wenn das Mädchen noch keinen Sexualpartner hat – eine langzeitige, länger als ein Jahr andauernde postoperative Dilatation der operativ gebildeten Neovagina, damit keine Verklebungen und keine Schrumpfung der Scheide eintreten.

Komplikationen:

Bei allen operativen Verfahren können Harnröhre, Harnblase und Rektum verletzt werden. Zudem ist zu berücksichtigen:

  • Die Prothesenscheide nach Warton verlangt postoperativ eine konsequente, mehrmalige Abtragung des hypertrophischen Granulationsgewebes und eine mehr als einjährige vaginale Dilatationsbehandlung bis zur vollständigen Epithelialisierung.
  • Bei der Epidermisscheide kann es zu einer extremen Narbenbildung im Bereich der Entnahmestelle kommen. Außerdem wird das Transplantat nicht selten abgestoßen. Auch in diesen Fällen ist eine regelmäßige Entfernung des Granulationsgewebes erforderlich.
  • Bei Darmscheiden tritt häufig ein sehr unangenehmer, kotig riechender, schleimiger Fluor auf.
  • Sowohl die Anlage einer Peritonealscheide als auch die Anlage einer Neovagina nach Vecchietti ist technisch relativ einfach. Geschlechtsverkehr kann und sollte ab etwa der dritten bis vierten postoperativen Woche gestartet werden, um Verkürzungen infolge von Adhäsionen zu vermeiden. Ansonsten ist eine langzeitige postoperative Dilatationsbehandlung erforderlich.
  • Bei allen operativen Methoden können postoperativ rektovaginale und urethrovesiko-vaginale Fisteln vorkommen.
  • Bei Epidermis- und Darmscheiden sind vereinzelt maligne Entartungen beschrieben.
  • Bei allen chirurgischen Methoden und auch bei der konservativen Dehnung kann in Einzelfällen ein Prolaps der Neovagina auftreten.

Vorbereitung der Mädchen und deren Eltern

Vor Beginn einer Behandlung wegen Vaginalaplasie sollten sowohl das minderjährige Mädchen als auch die Eltern über alle therapeutischen Möglichkeiten einschließlich aller Vor- und Nachteile unterrichtet werden.

Bezüglich der operativen Methoden ist insbesondere auch darüber zu informieren, dass eine postoperative Prothesenbehandlung fast immer notwendig ist, die bei Fehlen eines Sexualpartners länger als ein Jahr dauern kann.

Psychologische Aspekte:

Die Mitteilung, dass weder Scheide noch Uterus angelegt sind, führt bei den meisten Betroffenen zunächst zu einem Schock. Insbesondere die Erkenntnis, dass sie keine eigenen Kinder haben werden, lässt viele Mädchen an ihrer Weiblichkeit zweifeln. Und die meisten Mütter realisieren primär ihr eigenes Unglück, niemals Enkel zu bekommen. Des Weiteren gibt es große Ängste darüber, ob Partnerschaften überhaupt möglich sein werden.

Deshalb ist eine adäquate psychologische Unterstützung durch den behandelnden Arzt dringend erforderlich, bevor der Versuch einer Behandlung unternommen wird. Diese Unterstützung besteht insbesondere in der Stärkung des sexuellen Selbstbewusstseins des Mädchens, in der Diskussion seiner Hoffnungen und Ängste und in der Empfehlung einer individuellen Behandlungsstrategie.

Somatische Aspekte:

Zunächst muss das Mädchen mit seiner eigenen Anatomie vertraut gemacht werden: Die meisten Mädchen haben bis zur Diagnosestellung noch nie ihren Körper erkundet. Sie hatten nie eine Menstruation und sind daher völlig unvertraut mit der Position der Vagina im Verhältnis zu Vulva, Urethra und Anus. Daher sollten die Mädchen fachkundig angeleitet werden, sich selbst zu untersuchen, z.B. unter Benutzung eines Handspiegels. Sie werden dann die Erfahrung machen, dass ihr „vaginales Grübchen“ durchaus mehr oder weniger dehnbar ist. Und das hilft ihnen bei ihrer eigenen Therapieentscheidung. In vielen Fällen sind die Mädchen nach einer gewissen Zeit zu einer regelmäßigen Dehnung mit einem Dilatator oder dem eigenen Finger motiviert – oder dazu, Geschlechtsverkehr zu versuchen. Im letzteren Falle ist der Partner möglichst in die Gespräche einzubeziehen.
Diese gesamte Vorbereitung sollte professionell und zugleich einfühlsam und persönlich gestaltet werden.

Eigene Erfahrungen

Bis vor fünf Jahren haben wir an der Frauenklinik des Krankenhauses Berlin-Lichtenberg nahezu alle Mädchen mit MRKH-Syndrom operiert; bei den meisten wurde eine Peritonealscheide angelegt. Die postoperativen Ergebnisse waren sehr gut. Aber alle Mädchen, die nach der Operation keinen Geschlechtsverkehr hatten, mussten für mindestens ein Jahr eine Vaginalprothese tragen, da die Neovagina solange noch nicht voll epithelialisiert war und ohne Tragen einer Prothese verklebt wäre.

Das Dilemma der Mädchen mit MRKH-Syndrom besteht darin, dass sie im Wissen um ihre Fehlbildung ein erheblich vermindertes Selbstbewusstsein haben und daher gehemmt sind, eine Partnerbeziehung überhaupt zu beginnen. Und nach einer Operation haben sie noch größere Ängste. Wir haben nach Wegen gesucht, das Selbstbewusstsein der Mädchen vor Beginn einer Therapie zu stärken, und den Vaginalbefund sehr sorgfältig erhoben. Bei allen Mädchen fanden wir ein Vaginalgrübchen, dass durch den Finger des Untersuchers zumindest auf 2 cm, meist auf 3 bis 4 cm Länge und mehr – ohne Schmerzen für das Mädchen – gedehnt werden konnte.

Die Mädchen wurden zur Selbstuntersuchung angeleitet. Nach einiger Zeit waren alle Mädchen bereit, die Dehnung mit dem Finger regelmäßig selbst vorzunehmen. Die meisten von ihnen hatten innerhalb weniger Monate keine Angst mehr, eine Partnerbeziehung einzugehen und mit Geschlechtsverkehr zu beginnen.

Argumente für ein konservatives Vorgehen bei Vaginalaplasie

Die meisten chirurgischen Methoden zeigen unmittelbar postoperativ – wenn sie fachgerecht durchgeführt werden – hervorragende anatomische Resultate. Sie verlangen aber eine langzeitige Dilatation nach der Operation, sofern die Mädchen noch keinen Geschlechtsverkehr haben. Die postoperative Nachsorge der operativ behandelten Mädchen ist jedoch leider nicht selten völlig unzureichend, da sich kaum jemand professionell um sie kümmert: Der klinisch tätige Operateur betreibt meist keine Nachsorge, und der niedergelassene Gynäkologe ist bezüglich der Nachbehandlung häufig unsicher, wenn seitens des Operateurs keine gezielten Empfehlungen gegeben werden.

Um den Mädchen unnötige Operationen, Schmerzen und Probleme zu ersparen, sollte daher – wenn der Vaginalbefund dies erlaubt – als erste Maßnahme die konservative vaginale Dehnung empfohlen werden. Sie verlangt zunächst keinen Partner. Das Selbstbewusstsein wird jedoch infolge  Kennenlernens des eigenen Körpers gestärkt, und die Mädchen trauen sich, einen Partner zu finden.

Die Operation mit meist notwendiger postoperativer Dehnung sollte somit Methode der zweiten Wahl sein. Ohne Zweifel ist die Dilatationsmethode kostensparend. Um jedoch alle Aspekte bei konservativem Vorgehen beurteilen zu können, sind zentrierte Nachuntersuchungen im Rahmen von Studien notwendig.

Nach einem Vortrag anlässlich des III. National Congress of Paediatric and Adolescent Gynaecology, Sofia, 25.09.2004.

(Literatur bei der Verfasserin.)

Verfasserin:

Dr. med. Marlene Heinz
Kinder- und Jugendgynäkologie
Medizin-Zentrum am Krankenhaus Lichtenberg
Frankfurter Allee 231A
10365 Berlin