Fachwissen

Wann beginnen – wann beenden?

Hormonelle Entwicklungstherapie bei Adoleszentinnen

Marlene Heinz

aus korasion Nr. 2, Juni 2006

Estrogene spielen eine wesentliche Rolle beim Längenwachstum von Kindern. Sie haben außerdem einen erheblichen Einfluss auf den Knochen- und den Lipidstoffwechsel. Sie modulieren zudem Immunfunktionen und sind wesentlich für die Regulation von Entwicklung und Funktion des weiblichen Reproduktionssystems, für das zentrale Nervensystem und für das kardiovaskuläre System.

Im Falle eines Estrogenmangels unterschiedlicher Genese vor dem Start in die Pubertät und in die Adoleszenz wie überhaupt bei hormonell-bedingt fehlender oder verzögerter Entwicklung von Adoleszentinnen ist somit eine gezielte Hormonbehandlung der Mädchen erforderlich.

Diese als hormonelle Entwicklungshilfe für Adoleszentinnen zu sehende Therapie ist somit von der Hormonersatztherapie (HRT) wegen abfallender bis fehlender Hormonproduktion in Klimakterium und Postmenopause streng hinsichtlich Ursachen und Zielen zu unterscheiden.

Folgerichtig wird für solche hormonellen Behandlungen bei Adoleszentinnen die korrektere Bezeichnung „Hormonal development therapy (HDT)“ vorgeschlagen. Wenn mit den unter HDT zu verstehenden, notwendigen Therapien eine bereits langjährige therapeutische Praxis bzw. – mit Blick auf die betroffenen Mädchen – eine erfolgreich behandelte Klientel charakterisiert wird, ist im Zusammenhang mit den betreffenden Therapiekonzepten gleichzeitig auch auf das bisher ungelöste Problem des „Off-lable-Use“ von Hormonen kritisch zu verweisen (1, 2).

Welche Indikationen gibt es für eine HDT in Pubertät und Adoleszenz?

Eine Hormontherapie ist bei Estrogenmangelzuständen indiziert, die infolge angeborener oder erworbener Defekte der Ovarialfunktion oder bei Pubertas tarda infolge hypothalamischer bzw. hypophysärer Störungen die pubertäre Entwicklung der Mädchen beeinträchtigen.

Behandlungsbedarf kann ferner bei Gestagenmangelzuständen bestehen, die infolge der pubertär noch bestehenden Instabilität der endokrinen Achse zu Menstruationsstörungen unterschiedlicher Art führen können.

Es ist zwischen einem absoluten und einem relativen Estrogenmangel zu unterscheiden.

Wann liegt ein absoluter Estrogenmangel vor ?

Beim klassischen Turner-Syndrom (45,X0), beim selteneren Swyer-Syndrom (46,XY) sowie bei der reinen Gonadendysgenesie (46,XX) bestehen „Streak“-Gonaden, die keine Estrogene zu produzieren vermögen. Es besteht daher ein absoluter Estrogenmangel.

Kastrationen in Kindheit oder Adoleszenz infolge einer Oophorektomie oder Radiotherapie wegen gynäkologischer und nichtgynäkologischer Malignome verursachen ebenfalls einen absoluten Estrogenmangel, ebenso die Hodenexstirpation bei testikulärer Feminisierung.

Wann liegt ein relativer Estrogenmangel vor ?

Bei verzögerter Entwicklung der endokrinen Achse liegt das klinische Bild der Pubertas tarda vor, bei dem ein relativer Estrogenmangel besteht. Ein relativer Estrogenmangel kann ebenfalls bei Essstörungen und Untergewicht sowie psychischen Störungen eintreten und eine hypothalamische Amenorrhoe bedingen.

Bei länger andauernder Instabilität des endokrinen Regelkreises, d.h. bei länger als ein Jahr persistierender Oligomenorrhoe ist ferner regelhaft mit einem relativen Estrogenmangel zu rechnen. Seltenere genetische Defekte wie Gonadendysgenesien mit X0/XX-Mosaiken oder Autoimmundefekte verursachen ebenfalls einen Estrogenmangel.

Indikationen für eine HDT bei Mädchen bzw. Adoleszentinnen:

  • Absoluter bzw. relativer Estrogenmangel infolge
    • kongenitaler oder iatrogener Störungen der Ovarfunktion,
    • hypothalamisch oder hypophysär bedingter Pubertas tarda;
  • Gestagenmangel infolge Corpus-luteum-Insuffizienz.

Wann liegt ein Gestagenmangel vor ?

Mehr als 80% aller Menstruationsstörungen in Pubertät und Adoleszenz sind durch ein gestörtes Estrogen-Gestagen-Gleichgewicht bei entwicklungsbedingt noch bestehender Corpus-luteum-Insuffizienz verursacht. Am häufigsten sind dysfunktionelle uterine Blutungen wie die juvenile Blutung, die Hyper- und die Polymenorrhoe. Aber auch die anhaltende Oligomenorrhoe sowie die Dysmenorrhoe können durch einen Gestagenmangel bedingt sein.

Warum sollte bei Estrogenmangel behandelt werden?

Bei absolutem Estrogenmangel wird durch die Therapie der Start der Pubertät überhaupt erst ermöglicht, d.h. es werden sowohl normales Körperwachstum als auch Knochen- und Hirnreifung wirksam unterstützt (3, 4). Mit einer Therapie wird somit eine suffiziente Prophylaxe im Hinblick auf eine vorzeitige Osteoporose betrieben, wahrscheinlich auch im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen, und es werden die kognitiven Fähigkeiten signifikant verbessert (5).

Besteht ein relativer Estrogenmangel, werden mit einer Therapie insbesondere Menstruationsstörungen erfolgreich behoben.

Abgesehen von der medizinischen Indikation zur Hormontherapie sollte auch der hohe Leidensdruck der Mädchen ernst genommen werden, die infolge ihrer sichtbaren somatischen Unterentwickung oder ihrer Beschwerden ein mangelndes Selbstbewußsein haben und sich aus der „Peer“-Gruppe ausgegrenzt fühlen.

Allerdings – es gibt noch immer unterschiedliche Auffassungen zu folgenden Fragen:

  • Welche Estrogene und welche Gestagene (in welcher Applikationsform) sollten bei Jugendlichen verwendet werden?
  • Wann und wie sollte man mit einer HDT beginnen?
  • Wann sollte eine HDT beendet werden?

Welche Estrogene und Gestagene sollten verwendet werden?

Wir empfehlen primär die orale Applikation und bevorzugen zur Estrogensubstitution Estradiolvalerat (bis zu 2mg täglich). Konjugierte Estrogene in einer Dosis von bis zu 1,25mg täglich sind ebenfalls zur Substitution geeignet. Wenn eine Kontrazeption erforderlich ist, wird Ethinylestradiol (EE) gleichzeitig als Therapie eingesetzt.

In allen Fällen von Estrogenmangel bei Mädchen mit vorhandenem Uterus ist ab Tanner-Stadium B3 eine kombinierte Estrogen-Gestagen-Behandlung erforderlich, um eine Hypertrophie des Endometriums zu vermeiden. Bei fehlendem Uterus genügt eine Estrogen-Monotherapie, d.h. das Gestagen sollte insbesondere wegen der noch umstrittenen Wirkung der Gestagene auf die Brustdrüsen weggelassen werden.

Von den Gestagenen bevorzugen wir solche mit gestagener und antiandrogener Wirkung, und zwar wegen der während Pubertät und Adoleszenz noch fast regelhaft vorhandenen Androgenimbalanz, die im Wesentlichen mit Seborrhoe und Akne einhergeht (6, 7).

Es scheint, dass beim Turner-Syndrom transdermal verabreichte Estrogene den Pubertätseintritt schneller und besser initiieren als orale Estrogene (8). Dieser Effekt wird nicht nur für die Estrogen-Pflaster sondern auch für das Estrogen-Gel beschrieben (9).

Bei Anorexia nervosa tritt eine positive Wirkung der Estrogene auf die Knochendichte offensichtlich erst dann ein, wenn ein normaler BMI erreicht ist (10).

Wann und wie sollte man mit einer HDT beginnen?

Bezüglich eines absoluten Estrogenmangels herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass die Estrogengabe bei einem Lebensalter von etwa 12 Jahren beginnen sollte, um alle Benefits der Estrogentherapie zu nutzen. – Bei Turner Syndrom ist bei frühem Beginn der Gabe von Wachstumshormon zwischen dem 2. und 10. Lebensjahr durch die altersangepasste Applikation von zunächst niedrigen Estrogendosen keine negative Beeinflussung der Körpergröße im Erwachsenenalter zu befürchten (11).

Die Estrogenbehandlung sollte mit niedrigen, kontinuierlich verabreichten und allmählich ansteigenden Dosen beginnen. Nach etwa einem Jahr ist im Allgemeinen Tanner-Stadium B3 erreicht. Danach sollte zu Estrogen-Gestagen-Kombinationen übergegangen werden, sofern ein Uterus vorhanden ist. Wenn dies nicht der Fall ist, ist eine Estrogen-Monotherapie ausreichend.

Bei einem relativen Estrogenmangel werden die meist noch entwicklungsbedingt bestehenden Defizite mit einer oralen Kombination von Estradiolvalerat und einem antiandrogenen Gestagen ausgeglichen. Nur wenige Mädchen bevorzugen nach unserer Erfahrung ein Estrogen-Pflaster. Falls eine Schwangerschaftsverhütung erforderlich ist, erfüllen auch die hormonalen Kontrazeptiva die therapeutischen Anforderungen.

Bei ausschließlichem Gestagenmangel kommen die antiandrogenen Gestagene vom 13. bis 24. Zyklustag zur Anwendung.

Wann sollte eine HDT beendet werden?

Hinsichtlich der Therapie bei absolutem Estrogenmangel gibt es keinerlei Konsensus dazu, wie lange die Hormonbehandlung dauern sollte. Die betroffenen Patientinnen beginnen ihre Therapie bereits während der Kindheit oder in der Pubertät und nehmen daher die Hormone wesentlich länger ein als die Mehrzahl älterer Frauen. Dennoch gibt es keine Studien bezüglich der möglichen Risiken einer solchen Langzeiteinnahme von Estrogenen und Gestagenen, und Rückschlüsse aus der HRT in Klimakterium und Postmenopause sind sicherlich wegen der völlig anderen Bedingungen bei der HDT nur bedingt zulässig.

Unabhängig von der diesbezüglichen Diskussion und der nur bedingt nachvollziehbaren Zurückhaltung gegenüber der HRT in der Peri- und Postmenopause ist jedoch die HDT bei absolutem Estrogenmangel in der Adoleszenz von der HRT eindeutig zu unterscheiden und abzugrenzen. Die von einem solchen absoluten Mangel betroffenen Mädchen brauchen diese hormonelle Entwicklungshilfe unabdingbar für ihre körperliche und psychische Entwicklung. Denn anderenfalls sind gravierende Schäden zu erwarten, die kausal mit dem Hormondefizit zusammenhängen.

Diese Mädchen müssen klar darüber informiert werden, aus welchen Gründen sie die HDT brauchen und weshalb die Behandlung langfristig zumindest bis zum Erreichen des „normalen“ Menopausealters notwendig ist, möglicherweise auch lebenslang. Bei ungenügender Information und dementsprechend fehlender Motivation und mangelnder Compliance besteht sonst die Gefahr, dass die Mädchen die Therapie selbst beenden, sobald ihre sekundären Geschlechtsmerkmale entwickelt sind (12).

Bei einem relativen Estrogenmangel und bei einem Gestagenmangel ist lediglich temporär bis zur Stabilisierung der endokrinen Achse bzw. bis zum Verschwinden der Symptome zu behandeln. Insbesondere bei ausgeprägter Pubertas tarda kann die HDT jedoch für mehrere Jahre indiziert sein.

Resümee

Eine HDT (hormonal development therapy) sollte als unabdingbare hormonelle Hilfe bei der pubertären Entwicklung von Mädchen mit Estrogenmangel unterschiedlicher Genese verstanden werden. Sie ist somit von der HRT (hormone replacement therapy) in der Peri- und Postmenopause zu unterscheiden, mit der lediglich Hormondefizite infolge der erlöschenden Ovarialfunktion bei einer voll entwickelten, erwachsenen Frau ausgeglichen werden.

Die mit einem Estrogenmangel bei Mädchen verbundenen psychischen und insbesondere auch somatischen Belastungen bzw. Entwicklungsdefizite unterstreichen die gravierenden Unterschiede zwischen den Zielen von HDT und HRT: Ohne eine Hormontherapie ist bei diesen Mädchen eine Pubertätsentwicklung überhaupt nicht oder nur äußerst verzögert möglich, von den durch Estrogendefizite bedingten somatischen und psychischen Schäden ganz abgesehen.

Auch wenn es bisher keine Langzeitstudien im Hinblick auf mögliche Risiken bei jahrzehntelanger Anwendung von Steroidhormonen gibt, ist es dringend geboten, die Mädchen zur langfristigen HDT zu motivieren, um durch Estrogenmangelzustände verursachte Erkrankungen letztendlich auch im Erwachsenenalter weitgehend zu vermeiden.

Mit der aus langjähriger Praxis resultierenden Charakterisierung der hormonellen Entwicklungstherapien soll gleichzeitig auf den dringenden pharmakologischen Handlungs- sowie den spezifischen Forschungsbedarf im Zusammenhang mit diesen Behandlungen verwiesen werden.

Zusammenfassung:

1. Eine hormonelle Entwicklungstherapie (hormonal development therapy, HDT) ist bei absolutem Estrogenmangel unabdingbar und womöglich lebenslang anzuwenden (Studien zu den Risiken unter einer Langzeit-HDT liegen allerdings nicht vor).

2. Die fundamentalen Zielstellungen der HDT sind:

  • Induktion von Pubertät und normalem Wachstum,
  • Prävention der (juvenilen) Osteoporose,
  • Reduktion arterieller bzw. koronarer Erkrankungen,
  • Verbesserung kognitiver Funktionen,
  • Stärkung des Selbstwertgefühls.

3. Bei relativem Estrogen- und/oder Gestagenmangel wird eine HDT bis zur Stabilisierung der Hypothalamus-Hypophyse-Ovarien-Achse angewandt.

4. Weitere Aspekte der HDT-Anwendung bei relativem Hormonmangel:

  • Beschleunigung der pubertären Entwicklung,
  • Stabilisierung des menstruellen Zyklus,
  • Verbesserung der Lebensqualität.

5. Die hormonellen Entwicklungstherapien verlangen Einfühlungsvermögen der behandelnden Ärzte, sind individuell auszurichten und bedingen die Langzeit-Compliance der Patientinnen.

Literatur:

  1. Konsensuspapier der AG Kinder- und Jugendgynäkologie e.V. zur Anwendung von Östrogenen bei Östrogenmangelzuständen von Mädchen und jungen Frauen. korasion 2/1992;
  2. Dörr, H.-G.: Die Substitutionstherapie mit Östrogenen ist „Off-label-Use“. korasion 1/2005;
  3. Kanaka-Gantenbein, Christina: Hormone Replacement Treatment in Turner Syndrome. Ped. Endocrinol. Rev. 2006; 1: 214-218;
  4. Spiliotis, B.E.: Growth and Long-term Hormonal Therapy. Ped. Endocrinol. Rev. 2006; 1: 192-194;
  5. Ross, J.L. et al.: Use of estrogen in young girls with Turner syndrome: effects of memory. Neurology 2000; 54: 164-170;
  6. Heinz, Marlene: Menstruationsstörungen. In: Dörr, H.-G., Rascher, W. (Hrsg), Praxisbuch Jugendmedizin. Urban & Fischer; 2001;
  7. Heinz, Marlene: Ovarfunktionsstörungen bei Adoleszenten unter besonderer Berücksichtigung präventiver Ansätze. Syllabus 2005, XVII. Intensivkurs, Lübeck;
  8. Illig, R. et al.: A physiological mode of puberty inducton in hypogonadal girls with low dose transdermal 17-Beta-estradiol. Eur. J. Pediatr. 1990; 150: 86-91;
  9. Piippo, S. et al.: Use of percutaneous estrogen gel for induction of puberty in girls with Turner syndrome. J. Clin. Endocrinol. Metab. 2004; 89: 3241-3247;
  10. Bruni, Vincencina et al.: Predictors of Bone Loss in Young Women with Restrictive Eating Disorders. Ped. Endocrinol. Rev. 2006; 1: 219- 221;
  11. Reiter, E.O. et al.: Early initiation of growth hormone treatment allows age-appropriate estrogen use in Turner’s syndrome. J. Clin. Endocrinol. Metab. 2001; 86: 1936-1941;
  12. Hanton, L. et al.: The importance of estrogen replacement in young women with Turner syndrome. J. Women’s Health 2003; 12: 971- 977.
  13. Nach einem Vortrag anlässlich des X. Europäischen Kongresses für Kinder- und Jugendgynäkologie vom 10. bis 13. Mai 2006 in Budapest.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Marlene Heinz
Kinder- und Jugendgynäkologie
MedizinZentrum Sana
Klinikum Lichtenberg
Frankfurter Allee 231A
10365 Berlin,
E-Mail: marlene.heinz@noSpam.kjgberlin.de