Fachwissen

Adrenogenitales Syndrom infolge 21-Hydroxylase-Defektes:

Hat die pränatale Therapie in Deutschland eine Zukunft?

Helmuth G. Dörr

aus korasion Nr. 1, März 2008

Vor kurzem rief mich eine Kollegin aus einem Institut für Humangenetik an, die mich im folgenden Fall um Rat fragte: In ihrer Praxis stellte sich eine junge Frau in der 12. Schwangerschaftswoche vor, deren Partner heterozygoter Genträger für das klassische Adrenogenitale Syndrom (AGS) ist. Obwohl in seiner Familie ein AGS-Fall seit Jahren bekannt ist, wurde bei ihm erst jetzt die molekulargenetische Diagnostik veranlasst. Bei der Frau war bis dahin noch keine entsprechende Diagnostik durchgeführt worden. Nun fragte mich die Kollegin, ob bei der Frau eine pränatale Therapie mit Dexamethason in Frage kommen würde. Der Gynäkologe der Patientin habe sie mit dieser Fragestellung in die humangenetische Praxis überwiesen. Ich möchte diesen Fall zum Anlass nehmen und versuchen, aus der Sicht des Kinderendokrinologen eine Bilanz der pränatalen Therapie des AGS in Deutschland zu ziehen.

Klinisches Bild

Der weltweit erste Fall einer erfolgreichen pränatalen Therapie bei AGS wurde 1984 publiziert (1). Die pränatale Therapie ist somit im Jahr 2008 bereits über 30 Jahre alt.

Das klassische Adrenogenitale Syndrom infolge 21-Hydroxylase-Defektes (CYP-21- Defekt) ist mit über 90% die häufigste Störung der Kortisolbiosynthese in den Nebennierenrinden (2). Die Krankheit wird autosomal-rezessiv vererbt; das aktive 21-Hydroxylase-Gen ist auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 in der HLA-III-Region in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem homologen Pseudogen lokalisiert.

Man unterscheidet beim klassischen AGS zwei klinische Formen, eine Form mit Salzverlust und eine Form ohne Salzverlust (unkompliziertes oder einfach virilisierendes AGS). Das AGS mit Salzverlust-Syndrom ist 3 x häufiger. Die mittlere Inzidenz des AGS liegt weltweit bei ca. 1:11900, die Heterozygotenfrequenz liegt bei ca. 1:55, d.h. jeder 55. in der Bevölkerung ist Überträger des AGS.

In Deutschland wurde in das Neugeborenen-Screening die Bestimmung von 17-Hydroxy- Progesteron am 3. Lebenstag aufgenommen, d.h. das AGS wird bei den betroffenen Neugeborenen frühzeitig diagnostiziert.

Die weiblichen Neugeborenen haben ein intersexuelles äußeres Genitale, während das innere Genitale immer weiblich ist. Der Schweregrad der Virilisierung wird nach A. Prader in verschiedene Stadien ein geteilt und reicht von der einfachen Klitorishypertrophie (Prader 1) bis zur kompletten Fusion der Labioskrotalfalten mit einer penisartig vergrößerten Klitoris und Extension der Urethra auf die Glans Penis (Prader 5). Die Therapie der Wahl ist die lebenslange Dauersubstitution mit einem Glukokortikoid und beim Salz verlust-Syndrom zusätzlich mit einem Mineralokortikoid.

Pränatale Therapie

Die pränatale Therapie bei AGS infolge 21-Hydroxylase-Defektes hat das Ziel, die intrauterine Virilisierung weiblicher Feten mit AGS zu verhindern und den Mädchen spätere aufwendige Genitalkorrektur-Operationen zu ersparen. Mittel der Wahl ist das potente Glukokortikoid Dexamethason, das von der Plazenta nicht metabolisiert werden kann, so dass ein materno-fetaler Gradient von 1:1 erreicht wird. Da die Genitaldifferenzierung relativ früh zwischen der 7. und 13. Woche abläuft, muss mit der Therapie unmittelbar nach Feststellung der Schwangerschaft (5./6.Woche) begonnen werden.

Vor jeder geplanten pränatalen Therapie muss eine humangenetische Beratung erfolgen, bei der zunächst das AGS-Risiko für die betroffene Familie festgestellt wird. Der Idealfall ist: Beide Eltern sind heterozygote Träger des Gens, das für den 21- Hydroxylase-Defekt kodiert, haben ein betroffenes Kind mit AGS, und der Status der Eltern und des Indexfalles ist molekulargenetisch gesichert. Eine solche Konstellation liegt jedoch nicht immer vor.

Oft zeigen die Eltern unterschiedliche Mutationen, d.h. die Mutter kann eine Mutation haben, die typisch für das klassische AGS ist (z.B. Intron-2- Punktmutation), während der Vater eine Mutation für das Late-onset-AGS hat (z.B. Exon-7Val-128Leu). In einem solchen Fall würde das Kind, wenn es betroffen ist, compound heterozygot für das AGS sein. Der Phänotyp folgt in der Regel der Mutation, die eine höhere Restaktivität hat, also dem Late-onset-AGS. Dies würde bedeuten, dass das weibliche Neugeborene mit AGS nicht in dem Maße virilisiert werden würde, dass die pränatale Therapie fur diese Familie in Betracht kame.

"Blinder" Beginn der Therapie

Die Therapie muss "blind" begonnen werden, d.h. es werden auch gesunde bzw. betroffene heterozygote weibliche und männliche, ferner homozygote männliche Feten behandelt. Die Familie muss somit wissen, dass statistisch betrachtet sieben von 8 Feten unnötig behandelt werden.

Zu Beginn der Therapie wird Dexamethason in einer Dosis von 20µg/ kg/Tag, aufgeteilt in 3 Einzeldosen, empfohlen. Vefahren der Wahl zur Pranataldiagnose ist die Chorionzottenbiopsie. Ein vereinfachtes Flussschema der pränatalen Therapie ist in der Abb. 5 dargestellt.

Abb. 5: Vereinfachtes Flussschema der pränatalen AGS-Therapie

Betreuung der Schwangeren

Die Betreuung der Schwangeren (Risiko-Schwangerschaft) kann nur von einem Gynäkologen durchgeführt werden. Neben der regelmäßigen Kontrolle von Blutdruck, Gewicht, Blutzucker, HBA1c und Urin muss im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen von Dexamethason sorgfältig beobachtet werden. Um die Effektivität der Therapie, d.h. die Suppression der fetalen Nebennieren zu überwachen, empfiehlt sich die Bestimmung von Östriol im mütterlichen Serum oder Harn

Aufklärung der Familie

In den letzten Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass einige Ärztinnen/Ärzte in Deutschland ernsthaft glauben, dass die pränatale AGSTherapie eine Routineangelegenheit sei, zumal Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie in verschiedenen pädiatrischen und gynäkologischen Zeitschriften veröffentlicht wurden (3) und auch bereits Eingang in diverse pädiatrische und gynäkologische Lehrbücher gefunden haben. Das heißt: Dexamethason wird nicht selten großzügig Risikoschwangeren verordnet, ohne dabei einige der Grundregeln zu beachten, so z.B. ohne die notwendige humangenetische Beratung vor jeder pränatalen Therapie, ohne Festlegung der pränatalen Diagnostik und vor allem ohne die schriftliche Aufklärung der betroffenen Familie über die Therapie einschließlich der potenziellen Nebenwirkungen für Mutter und Kind.

Die Eltern sollten stets auch darüber aufgeklärt werden, dass es bis heute in Deutschland keine standardisierte Langzeitnachsorge für die ehemals pränatal behandelten Kinder (und auch der behandelten Frauen) gibt und man daher auf Daten vor allem aus den USA zurückgreifen muss.

Zentrale Dokumentation

Im Jahr 1990 wurde von der Arbeitsgemeinschaft/ Sektion für Pädiatrische Endokrinologie (APE/SPE) beschlossen, dass alle Fälle, die den Kinderendokrinologen bekannt gemacht werden, zentral dokumentiert werden sollen (Kinder- und Jugendklinik der Universität Erlangen, Prof. Dr. med. H.G. Dörr). Eine finanzielle Unterstützung des Projekts war nicht vorgesehen.

Es wurde ein Fragebogen entwickelt und zunächst an alle Pädiatrischen Endokrinologen unter der Vorstellung verschickt, dass diese von den Familien (mit Indexfall) auch über künftige Schwangerschaften informiert werden. Der Fragebogen wurde in den letzten Jahren regelmäßig überarbeitet und zuletzt eine Version für die betroffene Mutter/Familie und eine Version für den Arzt entwickelt, wobei der Arztfragebogen vom zuständigen Gynäkologen ausgefüllt werden soll. Die Fragebögen können auch über das Internet (Homepage der APE/ SPE: www.paediatrische-endokrinologie.de, Homepage der AGS-Selbsthilfegruppe: www.ags-initiative.de) abgerufen werden bzw. werden zudem auf Anfrage zur Verfügung gestellt. Das Ausfüllen der Fragebögen erfolgt auf freiwilliger Basis.

In der Datenbank liegen derzeit mehr oder weniger vollständige Daten von insgesamt 102 pränatal behandelten Mädchen vor. Leider muss man somit feststellen, dass die Fragebögen nahezu nie komplett ausgefüllt zurückgeschickt werden, d.h. es fehlen immer Daten, sei es zur Gewichtszunahme in der Schwangerschaft oder zu möglichen Dexamethason-Nebenwirkungen. Aufgrund der derzeit bestehenden Strukturen besteht jedoch keine Möglichkeit, gezielt nach den fehlenden Daten nachzufragen.

Dokumentierte Daten

Bei 82 der 102 Feten wurde die pränatale Therapie nach Erhalt des Ergebnisses der pränatalen Diagnostik beendet. Bis zum Geburtstermin wurden 20 weibliche Feten behandelt; bei 17 Neugeborenen wurde das AGS auch postnatal bestätigt. Bei 2 Feten war pränatal eine Fehldiagnose gestellt worden, in einem Fall verweigerte die Mutter die pränatale Diagnostik. In den Fällen, in denen die pränatale Therapie vor der 8. SSW begonnen wurde und in denen die Qualität der Therapie regelmäßig kontrolliert wurde, konnte eine Vermännlichung des äußeren Genitale erfolgreich verhindert werden.

Alle behandelten weiblichen AGS-Feten wurden am Termin geboren (14 spontan vaginal, 3 per Sectio). Die Geburtsmaße lagen im Normbereich, Fehlbildungen wurden nicht beobachtet. Bei den bis zum Geburtstermin behandelten Müttern fanden sich ähnliche Nebenwirkungen, wie sie in der Literatur beschrieben sind. So fand man bei 64 behandelten Frauen eine vermehrte Gewichtszunahme (13%), Müdigkeit (5%), vermehrte Behaarung (3%) sowie klinische Cushing- Zeichen (5%). In jeweils zwei Fällen kam es zu einer Präeklampsie und zu einem Gestationsdiabetes (4).

Wenn man bedenkt, dass in der Datenbank bisher nur 20 weibliche Feten erfasst sind, die pränatal bis zum Termin mit Dexamethason behandelt wurden, kann man bei der pränatalen AGS-Therapie nicht von einer Routinetherapie sprechen. Man muss allerdings davon ausgehen, dass die dokumentierten Fälle in der Datenbank nur einen Teil der tatsächlich pränatal behandelten Fälle in Deutschland darstellen. Zum Beispiel wurden für das Jahr 1999 nur 2 Fälle und für das Jahr 2000 überhaupt kein Fall dokumentiert.

Erfahrungen in den USA

Betrachtet man die veröffentlichten Daten zur pränatalen Therapie, so stammen die meisten Arbeiten aus den USA. Eine besonders große Kennerschaft hat sich die Arbeitsgruppe von Maria New (New York) erworben, da sie auch schon Langzeitdaten der Kinder nach pränataler Therapie publiziert hat. Die Erfahrungen der Arbeitsgruppe basieren auf ca. 600 pränatal behandelten Feten (5, 6).

Die Daten zeigen, dass die Therapie sicher und effektiv ist, wenn sie adäquat durchgeführt wird. Mütterliche Nebenwirkungen (wie oben beschrieben) traten sehr selten auf und waren nach Absetzen von Dexamethason reversibel. Insbesondere wurde kein arterieller Hochdruck und kein Diabetes beobachtet. Die in einer Studie befragten Mütter hatten sich alle positiv zur pränatalen Therapie geäußert und bestätigten, sie würden diese Therapie auch in einer nachfolgenden Schwangerschaft wieder durchführen.

Alle in den USA pränatal behandelten Neugeborenen hatten bei der Geburt normale Geburtsmaße. Die postnatale Entwicklung verlief normal, insbesondere zeigte kein Kind eine Fehlbildung wie eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte.

Die bisher vorliegenden Langzeitdaten, die mittels Fragebögen erhoben wurden (174 pränatal behandelte Kinder im Vergleich zu 313 unbehandelten Kindern, Alter: 1 Monat bis 12 Jahre) wiesen keinerlei Unterschiede in der kognitiven, sozialen oder psychomotorischen Entwicklung auf (7, 8). In einer Folgestudie mit 140 Kindern im Alter von 5 bis 12 Jahren, von denen etwa 25 pränatal behandelt worden waren, zeigte sich, dass die pränatal behandelten AGS-Mädchen im Vergleich mit den pränatal unbehandelten AGS-Mädchen in ihrem Verhalten weniger knabenhaft waren (8).

Internationaler Konsensus

Die internationalen Fachgesellschaften für Pädiatrische Endokrinologe (ESPE für Europa und Lawson Wilkins Society für die USA) haben in einer Konsensus-Stellungnahme, die 2002 publiziert wurde, für die pränatale Therapie bei AGS Folgendes festgelegt (9): „...Wir glauben, dass diese spezielle und anspruchsvolle Therapie nur von bestimmten Ärzten (Original: teams) durchgeführt werden soll, die nationale oder multinationale Therapieprotokolle verwenden, die wiederum von internatio nalen Expertenkomitees oder Ethik-Kommissionen geprüft wurden. Eine schriftliche Zustimmung nach Aufklärung über die Vor- und Nachteile der pränatalen Therapie muss vorliegen.“ – „...Die Daten müssen in eine zentrale Datenbank eingegeben und von einem unabhängigen Ärzteteam überprüft werden.“ – „Eine Langzeitnachuntersuchung bis ins Adoleszentenalter ist verbindlich.“

Alle diese Forderungen werden in Deutschland nur teilweise bzw. nicht umgesetzt. Wenn es uns in Deutschland nicht gelingt, die Qualität der pränatalen Therapie und die Effektivität der Dokumentation zu verbessern, und wenn es uns nicht gelingt, die entwickelten Konzepte zur Nachsorge der pränatal behandelten Kinder, auch der Kinder, die intrauterin nur wenige Wochen mit Dexamethason behandelt wurden, umzusetzen, muss meiner Meinung nach das ganze Konzept der pränatalen Therapie in Deutschland zur Disposition gestellt werden, zumal es ja immer noch die Möglichkeit der Genitalkorrektur-Operation gibt. Das heißt: Es müssen sich alle beteiligten Ärzte (Humangenetiker, Laborärzte, Gynäkologen, Internisten und Pädiatrische Endokrinologen) mit Vertretern der Gesundheitsministerien, der Krankenkassen und auch der Selbsthilfegruppen an einen Tisch setzen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Sie werden sich sicher fragen, was ich der Kollegin aus der Humangenetik geraten habe: Ich habe von einer pränatalen Therapie abgeraten.

Literatur:

  1. David M, Forest MG. Prenatal treatment of congenital adrenal hyperplasia resulting from 21-hydroxylase deficiency. J Pediatr 1984; 105: 799- 803;
  2. Merke DP, Bornstein SR. Congenital adrenal hyperplasia. Lancet 2005; 365: 2125-2136;
  3. Dörr HG, Sippell WG, Willig RP. Pränatale Diagnose und Therapie des Adrenogenitalen Syndroms mit 21- Hydroxylase-Defekt. Geburtsh Frauenheilk 1992; 52: 586-588;
  4. Forest MG, Dörr HG, on behalf of ESPE. Prenatal therapy in congenital adrenal hyperplasia due to 21-hydroxylase- deficiency: retrospective followup study of 253 treated pregnancies in 215 families. Endocrinologist 2003; 13: 252-259;
  5. New MI. Prenatal treatment of congenital adrenal hyperplasia. The United States experience. Endocrinol Metab Clin North Am 2001; 30: 1-13;
  6. Nimkarn S, New MI. Prenatal diagnosis and treatment of congenital adrenal hyperplasia owing to 21-hydroxylase deficiency. Nat Clin Pract Endocrinol Metab 2007; 3: 405-413;
  7. Meyer-Bahlburg HF, Dolezal C, Baker SW et al. Cognitive and motor development of children with and with - out congenital adrenal hyperplasia after early-prenatal dexamethasone. J Clin Endocrinol Metab 2004; 89: 610-614;
  8. Meyer-Bahlburg HF, Dolezal C, Baker SW et al. Prenatal androgenization affects gender-related behavior but not gender identity in 5-12-year-old girls with congenital adrenal hyperplasia. Arch Sex Behav 2004; 33: 97-104;
  9. Consensus statement on 21-hydroxylase deficiency from the Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society and the European Society for Paediatric Endocrinology. J Clin Endocrinol Metab 2002; 87: 4048-4053.

Verfasser:

Prof. Dr. med. Helmuth G. Dörr
Pädiatrische Endokrinologie der Kinder- und Jugendklinik
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